Miniaturen

Gedichte waren der Ausgangspunkt meiner schriftstellerischen Arbeit. Diese Gedankensplitter, Sprachspuren und Fragmente sind auf Postkarten, in Gedichtbänden, Schulbüchern, Anthologien, Kalendern, Zeitschriften, auf Geburts- und Todesanzeigen und auf Websites veröffentlicht worden und erreichten Millionenauflagen. Oft wurden sie in Verbindung mit meinen Fotos abgedruckt, und oft habe ich meine Fotos unmittelbar zu einem der Texte gemacht. Hier eine Auswahl dieser Bild-Text-Kombinationen (die Texte sind frei zur Verwendung im privaten, nicht kommerziellen Bereich unter Nennung meines Namens und Angabe dieser Website als Quelle, viele weitere Texte finden sich im Web unter meinem Namen):

Wachsen heißt nicht, möglichst schnell möglichst groß werden. Wachsen heißt, ganz behutsam und allmählich die uns eigene und angemessene Größe erreichen, bis wir den Himmel in uns berühren.

Gegenmittel

Trotz allem,
was tagtäglich geschieht
auf diesem Planeten,
nicht gleichgültig werden.
Nicht abstumpfen,
nicht verzweifeln,
nicht verbittern.
Nicht die Augen verschließen.
Nicht die Hände in den Schoß legen,
sich nicht auf die Aussichtslosigkeit berufen,
auf die eigene Schwäche.
Nicht zur Tagesordnung übergehen,
sondern Tag für Tag,
jeder auf seine Weise,
dem Unrecht die Stirn bieten
und das Leben umarmen.

Kussgenuss

Wie schön sind diese
zaghaft zarten Küsse,
die so behutsam erst,
und voll von Zögern.
Und doch getrieben
von dem Wunsch,
einander auf der Zunge
zu zergehen.
Und hinter sehnsuchtsvollen Lippen
pulsiert die porentiefe Lust
einander ungezügelt zu bezüngeln.
Und sich zu schmecken,
bis die Zungen seufzen.
Doch unsre Zungenspitzen
haben keine Eile
und all ihr Zaudern
steigert nur das Sehnen.
Bis schließlich etwas Großes uns erfasst,
das stärker ist, als wir.
Und endlich liegen wir
uns auf der Zunge,
und zwischen unsern Zähnen
zerfließen wir in zartem Zauber.

Zeichensetzung

In der Schule
lehren sie uns
die Regeln von Punkt und Komma.
Aber wer erklärt uns,
wie man ein Zeichen setzt?
Ein mutiges,
weithin sichtbares Ausrufezeichen,
dort, wo tosendes Schweigen
ein Unrecht übertönen soll.
Einen kräftigen,
einen langen Gedankenstrich,
dort, wo allzu schnelle Urteile
der Verächtlichkeit
Tür und Tor öffnen.
Ein bohrendes,
ein unnachgiebiges Fragezeichen,
dort, wo schmutzige Hände
sich in Unschuld waschen.

Sag den Problemen, ich komme nach dem Frühstück. Aber sie brauchen nicht auf mich zu warten. Echt nicht!

Zeitgefühl

Seit Jahr und Tag
der Zeit
nur hinterhergelaufen,
bis sie wie angewurzelt
stehen blieb,
im Monat Mai
auf einem Bahnhofsklo.
Dort diesen Satz entdeckt:
„Wer schneller lebt,
ist früher fertig!“
Noch nie so langsam
meine Hose hochgezogen
und in der Mittagssonne
seelenruhig
den Zug verpasst.

Nicht zu fassen

Du bist Hafen
meiner Kreuzfahrt
und bist Zug
auf meinem Bahnhof.
Du bist die Lösung
für mein Rätsel
und bist Frage
meiner Antwort.
Du bist eine Spur
im Lauf meines Lebens,
Sprosse des Sommers
in meinem Gesicht.
Du bist Licht in der Nacht
und ich werfe Schatten,
du bist Spiegel am Tag
und ich staune mich an.

Acht Milliarden

Wir schaffen es
unseren blauen Planeten
ins Schwitzen zu bringen,
obwohl jeder einzelne Mensch
doch nur
sein winzig kleines Bisschen
dazutut.
Schließlich sind wir
acht Milliarden einzelne Menschen.

Aber genau so
müsste es doch zu schaffen sein,
das zu ändern,
wenn jeder einzelne Mensch
sein winzig kleines Bisschen
dazutut.
Schließlich sind wir
acht Milliarden einzelne Menschen.

Das muss man sich ab und zu einfach mal gönnen: Morgens so lange schlafen, dass man abends nicht ins Bett kann, weil man noch drin liegt.

Halb so wild

Eine peinliche Panne
erfordert leider
die Evakuierung der Erde.
Bitte bleiben Sie ruhig,
Sie werden entgiftet,
entseucht,
entschärft
und entschädigt,
ihre Tränen getrocknet,
die Nase geputzt,
und heile, heile Gänschen,
dreimal gepustet
und Pflaster drauf,
und nachher
gibt‘s auch ein Eis.

Postraub

Ich schlich
im Schutz der Nacht
mit einem Dosenöffner
zum Briefkasten
an der Ecke.
Im Handumdrehen
war die Büchse auf.
Jetzt sitz ich
zu Hause
mit einem Sack
voll Worte,
die reden alle
auf mich ein:
„Bezug nehmend auf baldige
Genesung der o.g. Betrag
ist bis heute Abend im
Parkverbot zum Preis von
sage und schreibe ich
denk an dich.“

Begegnung

Irgendwo in Europa macht sich ein Mensch auf die Reise.
Kanarische Inseln.
Dem grauen Winter entfliehen für knapp einen Monatslohn.
Eine Reise über das Meer.
Mit einem Flugzeug
und vielleicht mit dem mulmigen Gefühl:
Werde ich auch heile ankommen?
Und dann ist er da, geschafft, endlich am Strand,
endlich wieder warmen Sand unter den Füßen.

Irgendwo in Afrika macht sich ein Mensch auf die Reise.
Kanarische Inseln.
Dem Grauen aus Armut und Gewalt entfliehen
für mehr als einen Jahreslohn.
Eine Reise über das Meer.
Mit einem armseligen Boot.
und bestimmt mit dem mulmigen Gefühl:
Werde ich auch heile ankommen?
Und dann ist er da, geschafft, endlich am Strand,
endlich wieder warmen Sand unter den Füßen.

Und hier treffen sie auf einander,
der braungebrannte Weiße,
gut erholt und mit einem frischen Handtuch
und der erschöpfte Schwarze, blass bis auf die Knochen,
und nur das nackten Leben in den Händen.
Fassungslos alle beide,
was es alles gibt auf dieser einen Erde.

Menschengarten

Manchmal im Zoo
stehen sie voreinander,
der Menschenaffe
und der Affenmensch.
Auge in Auge.
Dazwischen
ein Gitter aus Stahl.
Der Affe
zeigt dem Menschen den Vogel.
Der Mensch hält sich fest
an der Aktentasche
und kratzt sich
hinter dem Ohr.
Der Eine denkt:
So menschlich der Affe.
Der Andere:
So affig der Mensch.
Komm weiter,
wir sehn uns
die Eskimos an,
sagt der Affe
und zieht
sein staunendes Affenkind
weiter zum nächsten Gehege.

Wir sollten viel öfter von ganzem Herzen etwas tun, das kein Ziel verfolgt, das keine Eile hat und sich nicht lohnen muss. 

Gute Frage

Wenn es ihn wirklich gibt,
so fragen wir,
warum tut er dann nicht mehr
gegen Hunger und Krieg,
gegen das Schmelzen der Pole
und den Anstieg der Meere,
gegen Armut und Unrecht,
Verzweiflung und Not…?
Aber die Frage ist doch:
Wenn es uns wirklich gibt,
warum tun wir dann
nicht mehr…?

Ein hoher Preis

So fern und fremd ist sie gar nicht, die große weite Welt.
Sie ist in dem Kaffee aus Brasilien, den wir jeden Morgen trinken.
In dem Flachbidschirm, made in China, der uns täglich
die Nachrichten aus aller Welt zeigt.
In den Rosen aus Kenia, die uns im November Sommerdüfte bringen.
In den knallbunten T-Shirts aus Bangladesh,
die wir auf unserer Haut tragen.
All das kostet uns nicht viel, weil die, die es herstellen,
mit ihren eigenen Händen, so wenig dafür bekommen.
Obwohl es sie so viel kostet.

Ein Freund versteht dich, weil er dich mag. Aber ein Freund mag dich auch, wenn er dich nicht versteht.

Genug für alle

Die Menschen dieser Erde
sitzen an zwei Tischen.
Um den einen Tisch
sitzen die Vielen
und teilen sich ein Stück Brot
und einen Schluck Wasser.
Der Tisch der Wenigen
biegt sich unter der Last
all der köstlichen Speisen.
Wann werden wir endlich
die Tische zusammen schieben?

Wettlieben

Zuerst
die Ausscheidung
im Hochstapeln
mit gegenseitigem Anhimmeln.
Dann
die Disziplinen
Höhenflug und Luftsprung.
Fünf Bahnen Nackenkraulen.
Drei Jahre Zweierkistenrennen.
Zwei Durchgänge Tauziehen.
Dann eine Partie
Seitenspringen
als gemischtes Doppel,
gefolgt von
100 m Spießrutenlauf.
Und schließlich
das Abseilen.
Erster!

Tempolimit

Ab und zu
ohne Auto.
Mit dem Bus vielleicht.
Oder mit dem Rad.
Vielleicht sogar zu Fuß.
Und dann
unter freiem Himmel
den Frühling riechen,
die Muskeln spüren,
die Menschen grüßen.
Ohne Auto
ginge alles
etwas langsamer.
Aber wir würden
Zeit gewinnen.

Sag den schlechten Zeiten: Nichts bleibt wie es ist. Sag dem schönen Augenblick: Ewig währt am längsten.

Beziehungsweise

Ist es denn nicht möglich,
sich täglich nahe zu sein,
ohne alltäglich zu werden,
voneinander entfernt zu sein,
ohne sich zu verlieren …?

Beziehungsweise
sich maßlos zu lieben,
ohne sich lieblos zu maßregeln,
einander gewähren zu lassen,
ohne die Gewähr zu verlieren …?

Beziehungsweise
einander sicher zu sein,
ohne sich abhängig zu machen,
einander Freiheit zu gewähren,
ohne sich unsicher zu werden …?

Beziehungsweise…

Bankenkrise

Meine Bank,
so sagt der Reiche,
hat sich verspekuliert,
es ist unglaublich,
da werden Milliarden
einfach verbrannt.
Meine Bank,
so sagt der Arme,
hat den strengen Winter
nicht überlebt.
Es ist unglaublich,
aber wir haben sie
einfach verbrannt.

Atlantische Affaire

Das Meer strich der einsamen Insel
die Haare aus der Stirn
und machte ihr
eine stürmische Liebeserklärung
in seiner überschäumenden Art.
„Bei mir siehst du kein Land!“
zischte die Insel,
schroff, wie sie war,
lag einfach nur da,
war unverschämt hübsch
und übrigens wesentlich jünger.
Das Meer legte sich ihr zu Füßen,
und zweimal am Tag
versuchte es eine Umarmung,
bis eines nachts die Insel
in einer Welle von Lust und Laune versank.

Unser Garten

Kein Halm,
keine Blume,
kein Baum
wächst bis in den Himmel.
Nur wir Menschen
greifen nach den Sternen
und zertreten dabei
den Garten,
in dem wir leben.

Männlein im Walde

Ende Mai fingen wir an,
uns ernsthaft Sorgen zu machen.
Noch immer zeigte sich
kein Grün an den Zweigen.
Und im Wald standen
zwischen blattlosen Bäumen
ratlose Minister.
Ein klitzekleines Problemchen
mit dem Weltklima,
sagte einer lächelnd.
Soll nicht wieder vorkommen,
murmelte ein anderer leise.

Mit anderen Augen

Mein linkes Auge
sieht die Welt
ein kleines bisschen
gelblicher
als mein Rechtes.
Welches Auge
sieht die Welt
wirklicher?
Sehen andere Augen
einen grünen Himmel
und nennen ihn blau
weil man ihnen sagte
die Farbe des Himmels
sei blau?
Und wie
sieht die Welt aus
für dich,
der du
rote Milch trinkst?

Lieber auf neuen Wegen stolpern, als in den alten Bahnen auf der Stelle treten.