Grüner Mond

Grüner Mond   Sara Harmsen lebt mit sieben Hühnern, drei Schafen und der Rottweilerhündin Luna am Fluss und betreibt eine kleine Fähre, die das nahegelegene Dorf Erlengrund mit der Kreisstadt verbindet. Das abgelegene Fährhaus mit dem großen Garten liegt auf einem halbmondförmigen und fruchtbaren Stückchen Land in einem Bogen des Flusses, ein verwunschener Ort, der in der ganzen Gegend Grüner Mond genannt wird.

Eines Tages taucht auf Saras Fähre ein junger Mann mit einer Kopfverletzung auf, Leon, ein Idealist und Weltverbesserer mit einer tiefen Verehrung für Bäume und der quälenden Sorge, dass die Menschheit ihren Planeten ruiniert. Er gehört zu einer Gruppe von Umweltaktivisten aus Hamburg, die ein Waldstück unweit von Saras Fähre besetzt hat, um die alten Bäume zu retten und eine Autobahn zu verhindern. Leon hat bei der Räumung einen Brandsatz auf ein Polizeifahrzeug geworfen und wird deswegen gesucht.

Sara verarztet den jungen Mann und versteckt ihn bei sich, dafür verlangt sie, dass er ihr bei den Arbeiten rund um ihr verwahrlostes Haus am Fluss hilft. Beim Scheren der Schafe, bei der Reparatur des Hühnerstalldachs oder beim Sensen der Obstwiese tritt die große Skepsis zwischen den beiden zu Tage. Zwei Welten prallen aufeinander, verstörend und fremd, und auch die Umstände sind widrig: Sommerliche Hitze, ein launisches Hühnerorakel, eine saublöde Brücke, leises Knistern und laute Wortgefechte, Gedichte von Brecht und eine gescheiterte Reise nach Sansibar. Und dann tritt auch noch der Fluss über die Ufer.

Die Geschichte einer zufälligen Begegnung wird in wechselnden Perspektiven aus der Sicht von Sara und Leon erzählt. Dabei ist die Erzählstimme leise und einfühlsam, mit Wärme und Augenzwinkern kommt der Text den Figuren nahe und baut sukzessive Spannung und atmosphärische Dichte auf, die in die Geschichte hineinziehen.

Klimawandel im Roman  Bei diesem Romanprojekt stand ich vor der Frage: Wie schreibe ich über den Klimawandel, ohne die Apokalypse an die Wand zu malen und lähmende Ängste zu schüren?  Wie kann ein Roman trotz dieses Themas unterhaltend, aufmunternd und lebensbejahend sein? Zunächst mal habe ich die Sorge um den Planeten nicht in den Vordergrund des Buches gestellt, sondern lasse sie der Handlung wie eine Grundierung unterliegen – so wie sie auch unseren Alltag oft untermalt. Zum anderen habe ich meine eigenen widerstreitenden Haltungen zu dem Thema als Ausgagspunkt genommen, habe sie den beiden Romanfiguren zugewiesen und lasse sie in der Begegnung von Leon und Sara aufeinanderprallen: Leon, Idealist und Waldbesetzer, ist in großer Sorge um die Zukunft unseres Planeten. Sein Leben wird von Aktivitäten für den Klimaschutz beherrscht, trotzdem hat er ständig das Gefühl, dass es nicht reicht. Albträume und Panikattacken mit Atemnot sind die quälenden Symptome seiner Ängste. Die Fährfrau Sara lebt naturnah und autark mit ihren Tieren auf dem Grünen Mond. Die kommende Klimakatastrophe ist für sie Folge menschlicher Gier, Trägheit und Kurzsichtigkeit, gegen die sie sowieso nichts ausrichten kann. Sie versucht, Zufriedenheit und persönliches Glück zu finden und dabei möglichst wenig Schaden anzurichten.

In der Geschichte lasse ich diese beiden Haltungen aufeinandertreffen, so wie sie auch in mir – und vielleicht in vielen von uns – immer wieder in Konflikt geraten und nach Vereinbarkeit suchen..

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Grüner Mond

1.

Da war ein Kitzeln in ihrem Gesicht. Die braunen und schwarzen Stoppeln berührten ihre Wange und bewegten sich im Atemrhythmus. Es roch nach Tier. Sara Harmsen hatte sich im Bett umgedreht und war dabei mit ihrem Gesicht in das Fell geraten. Nun lag sie wach und lauschte auf das schläfrige Schnaufen, das mitunter klang wie ein Stoßseufzer über die Schwere des Lebens. Sie mochte das, der muskulöse Körper neben ihr im Bett, das Fell, das ihn umhüllte. Wie sich das wohl anfühlte, ein Fell zu haben? Keine Kleider mehr, keine Schuhe. Alles wäre so viel einfacher. Ein Tier müsste man sein. Eine Bärin vielleicht. Oder eine Raubkatze. Aber sie war kein Tier. Sie war eine Frau, die nicht schlafen konnte und die darauf wartete, dass es endlich hell wurde.

Ein Geräusch wehte mit der Morgenluft durch das Fenster herein, ein Schaben, als würde jemand über ein Brett kratzen. Was zum Teufel war das? Sara Harmsen setzte sich im Bett auf und lauschte. Alles klang wie immer: Der Fluss rauschte in seinem Bogen um das Backsteinhaus herum, die Hühner gackerten verschlafen im Stall, in der Linde vor dem Fenster stritten sich zwei frühe Amseln.

Luna schlief weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Das schwarzbraune Fell hob und senkte sich, ihr kantiger Kopf ruhte auf den Vorderläufen. Früher hätte sie so ein Kratzen alarmiert. Sie hätte augenblicklich die Ohren aufgestellt, hätte den Kopf gehoben und angeschlagen. Luna wurde alt. Was sollte bloß werden, wenn die Rottweilerhündin eines Tages nicht mehr da war? Eine entsetzliche Vorstellung, ein Leben ohne Luna, du meine Güte. Sara schob den Gedanken beiseite.

Der Pyjama klebte ihr am Körper, das Bett fühlte sich klamm an. Die Nacht hatte kaum Abkühlung gebracht, Sara hatte sich hin und her gewälzt und nur wenig Schlaf gefunden. Selbst das dünne Laken war ihr zu viel gewesen. Und nun saß sie um kurz nach vier hellwach im Bett, während der tiefblaue Himmel einen weiteren heißen Tag ankündigte. Würde diese Hitze denn niemals enden?

Da war es wieder, das gleiche Schaben wie vorhin, die Hühner wurden unruhig. Jetzt hatte es auch Luna gehört, sie reckte den Kopf, ihre Muskeln spannten sich. Die Hündin hob die Nase und schnupperte, dann sprang sie auf und kratzte winselnd an der Tür.

„Da stimmt was nicht, Sara Harmsen“, murmelte Sara. Das Blut stieg ihr in die Wangen, es kribbelte und pulsierte. Mit einem Ruck schob sie das Laken beiseite. Auf ihrem Weg zur Tür musste sie einem Teller mit Nudelresten ausweichen und stieß mit dem großen Zeh gegen einen der Bücherstapel. Himmel nochmal! Während Luna schon die ausgetretenen Treppenstufen hinunterstürzte, eilte sie im Flur an der Tür mit den drei bunten Holzbuchstaben vorbei, das J, das A und das N. Unten schlüpfte Sara in die Holzpantinen und griff sich die doppelläufige Flinte ihres Vaters, die lange nach seinem Tod noch immer geladen neben der Haustür hing. Luna bellte ungeduldig.

„Ja, ja, ich komm ja schon.“

Sara riss die Haustür auf und blieb mit dem Gewehr im Anschlag auf dem Treppenabsatz stehen. In wenigen Sätzen war Luna beim Hühnerstall. Sie bellte wütend zum Dach hinauf. Was hatte sie denn? Hier sah alles aus wie immer: Die alte Linde streckte im ersten Morgenlicht ihre grünen Arme über das Haus, neben dem Hühnerstall erinnerte der umgefallene Holzstoß daran, dass sie immer noch nicht dazu gekommen war, die Scheite neu aufzuschichten, auf dem Weg zum Fluss stand seit Tagen eine Schubkarre mit Grünschnitt, im Dach des Hühnerstalls mahnte das Loch mit den drei fehlenden Pfannen: Reparier mich!

Wie sollte sie das alles jemals schaffen?

Wie aus dem Nichts huschte ein orangebrauner Schatten über die Dachschräge des Hühnerstalls und steuerte die Stelle mit den fehlenden Pfannen an. Ein Fuchs! In der Bretterwand des Stalls hatte er keinen Durchschlupf gefunden, nun versuchte er es über das Dach. Ehe Sara zum Schuss kam, hatte er das Loch im Dach erreicht und war darin verschwunden. Verdammt nochmal, ein Fuchs war im Stall! Von drinnen war jetzt das Angstgeschrei der Hühner zu hören, Luna bellte wie von Sinnen, im Stall rumorte es. Es klang wie das pure Inferno.

Sara rannte in ihrem Pyjama zum Stall rüber, dabei schoss sie in die Luft. Sie riss die Stalltür auf. Sieben Hühner und ein Fuchs wirbelten herum wie in einem Schleudergang, es war ein Flattern und Schnappen auf Leben und Tod. Der Fuchs hatte Sara bemerkt und hielt inne. Einen Moment lang stand er da und sah sie an, als wollte er sagen: Und jetzt? Was machen wir jetzt? Ganz langsam hob Sara das Gewehr. Und dann, gerade, als sie abdrücken wollte, zischte der Fuchs an ihr vorbei und suchte das Weite.

Luna folgte ihm mit empörtem Gebell.

Sara stellte das Gewehr ab und ließ sich auf der Schicht aus Sägespänen, Futterresten und Exkrementen nieder, die den Stallboden bedeckte.

„Ist ja gut, meine Lieben, ist ja gut. Der Fuchs ist weg, alles gut.“

Mit einem Gurren versuchte sie, die Tiere zu beruhigen und zu sich zu locken. Als erste stakste Siwa heran, gefolgt von Dodona. Die beiden schienen okay zu sein, vielleicht war es nochmal gut gegangen. Doch dann sah Sara, was passiert war: Der Fuchs hatte Didyma erwischt. Ausgerechnet Didyma. Das Huhn blutete aus einer Bisswunde am Hals, es näherte sich mit wackeligen Schritten. Sara nahm das Tier auf den Schoß und streichelte ihm über den Rücken.

„Das sieht böse aus, Schätzchen“, raunte sie Didyma zu. Ein rotes Rinnsal sickerte über die Federn. Saras Hände wurden blutig, es tropfte auf ihren Pyjama. Das Huhn zitterte und gab Klagelaute von sich, Didyma würde es nicht schaffen, so viel war klar.

„Es tut mir leid“, murmelte Sara vornübergebeugt in die weichen Federn. „Es tut mir so furchtbar leid.“

Warum hatte sie das Dach nicht längst repariert, verflucht nochmal?

Sara erhob sich mit einem Seufzer und trug Didyma nach draußen. Sanft wiegte sie ihr Lieblingshuhn und ging dabei auf und ab, sie summte eine Melodie, spürte die Wärme des Körpers, das Zutrauen, dass dieses Tier in sie setzte, die Hoffnung auf Hilfe. Schließlich blieb sie neben dem umgefallenen Holzstoß stehen, bei dem Hauklotz, in dem noch die Axt steckte.

„Scht, scht“, machte Sara und streichelte Didyma über den Rücken. Sie mochte die Hühner, weil sie ihr unbekümmert vertrauten. Weil sie aufrichtig waren. Das war der Unterschied zwischen Mensch und Tier: Ein Huhn machte dir nichts vor. Es hatte keine Hintergedanken, es verstellte sich nicht, es kannte keine Lügen. Bei einem Menschen konntest du nie wissen, was sich hinter dem Lächeln verbarg, was die wahre Absicht hinter den schönen Worten war. Im Grunde waren die Menschen seit der Steinzeit dieselben Rohlinge geblieben, die sich für einen kleinen Vorteil die Schädel einschlugen – nur dass sie heute viel verheerendere Mittel dafür hatten. Das war die traurige Wahrheit. Aber noch schlimmer als diese Wahrheit war Saras Verdacht, dass sie selbst nicht besser war, wenn es hart auf hart kam.

„Ist ja gut“, raunte Sara in Didymas Federkleid, „ist ja gut.“

Einen Moment lang stand sie mit dem Huhn im Arm da und presste die Lippen aufeinander. Es half nichts. Mit einer schnellen Bewegung packte sie Didyma an den Beinen, löste mit der anderen Hand die Axt aus dem Hauklotz, legte den Körper des Huhns auf das Holz und trennte den Kopf mit einem Hieb vom Körper. Ein Schmerz durchfuhr sie. Es war, als hätte sie sich einen Teil ihres eigenen Körpers abgehackt. Als wäre nicht Didymas Kopf neben dem Hauklotz zu Boden gefallen, sondern ihre linke Hand, als würde das Blut, das über das Holz floss, nicht aus dem zuckenden Körper des Huhns sickern, sondern aus dem Stummel ihres Arms.

2.

Sara blickte an sich herunter, sie sah schlimm aus. Ihr Pyjama war mit roten Flecken übersät, an ihren Händen und Armen klebte Blut. Sie wollte sich waschen, aber beim Anblick des geköpften Huhns stieg ein Schwindel in ihr auf. Sie schloss die Augen, aber als sie sie wieder öffnete, hing da immer noch ihr Lieblingshuhn zum Ausbluten an der Wäscheleine. Obwohl sie ihren Füßen den Befehl gab, sich in Bewegung zu setzen, dauerte es mehrere Augenblicke, bis ihre Holzschuhe sich endlich rührten und über den gepflasterten Weg vom Hühnerstall runter zum Fluss klackerten.

Als Sara sich neben dem Steg an das steinige Ufer hockte und die Hände in die Strömung hielt, schob sich die Sonne gerade über den Horizont. Es musste gegen fünf sein. Sie sah ihr Spiegelbild im Wasser, die zurückgebundenen rostroten Haare, das rundliche Gesicht, in dem ein Ausdruck der Bestürzung lag. Warum setzte ihr dieser Vorfall so zu? Natürlich trauerte sie um Didyma, aber das war es nicht allein. In ihrem Kopf tauchten wirre Bilder auf, die fehlenden Pfannen, das kopflose Huhn, das Blut, all das verschwamm in der Strömung wie eine flimmernde Doppelbelichtung. Sara blinzelte, weitere Bilder erschienen. Sie sah sich selbst am Ufer sitzen, mit dem trotzigen Blick des fünfzehnjährigen Mädchens, das sich hier im Fluss schon die Hände gewaschen hatte. Und dann tauchte auf einmal Jan hinter ihr auf, er kam näher und hockte sich neben ihr ans Ufer. Was sollte das, was wollte Jan hier? Wollte er die alte Geschichte wieder aufrühren?

Komm schon, Schwesterherz, du weißt doch, dass ich dir längst verziehen habe. Die helle Kinderstimme mischte sich in das Plätschern des Flusses.

Sara schluckte, ein Frösteln ging durch ihren Körper. Nein, das wusste sie nicht. Hör zu, murmelte sie, ich habe einen Riesenfehler gemacht, damals.

Jetzt fang nicht wieder damit an, Schwesterherz. Es ist vorbei.

Nein, es war nicht vorbei. Mit dem Axthieb waren die alten Bilder wieder hochgekommen, sie klebten an ihr wie Didymas Blut, dunkelrot und zäh. Dieses Blut musste weg, sofort.

Sara schrubbte und rieb an ihren Fingern, das getrocknete Blut löste sich nur schlecht. Sie kam erst zur Ruhe, als der Fluss auch die letzten Blutspuren aufgenommen hatte, so wie er alles und jedes geduldig aufnahm und es forttrug in Richtung Meer, all den Schmutz, all die Angst, all die Sehnsucht. Und all die Schuld.

Sara setzte sich ein Stück oberhalb auf die Kieselsteine und stützte die Arme auf die Knie. Wie weit sich der Fluss zurückgezogen hatte! Hier, wo sie jetzt saß, stand normalerweise die ganze Böschung unter Wasser, und der Fluss rauschte breit und kraftvoll. Nun floss er träge dahin. Er war immer noch ein stattliches Gewässer, aber der Pegel sank von Tag zu Tag. Vor zwei Wochen war der Schiffsverkehr eingestellt worden. Und wenn es nicht bald regnete, würde es nicht mal mehr für die Querung mit der Fähre reichen. Sie würde den Fährbetrieb auf unbestimmte Zeit einstellen müssen, ihre Einnahmen würden ausbleiben. Und dann? Wovon willst du dann leben, Sara Harmsen, wie willst du zurechtkommen?

Sie blickte flussabwärts zum Anlegeplatz. Dort lag die blauweiße Fähre vor Anker, beschattet von den drei Pappeln, die ihr Urgroßvater gepflanzt hatte. Um kurz vor sieben würden dort die Fahrgäste erscheinen. Ihr blieben noch knapp zwei Stunden bis zur ersten Überfahrt dieses Tages.

Sara ging zurück zum Hühnerstall, nahm das kopflose Huhn von der Wäscheleine und brachte es in die Speisekammer. In der Küche öffnete sie den Kühlschrank und holte die Flasche aus dem Eisfach. Auf diesen Schreck durfte sie sich ja wohl einen Schluck genehmigen. Sie setzte die Flasche an, wie gut das tat, dieses warme Strömen, das den Knoten in ihrem Inneren löste. Einen Augenblick stand sie da und hielt die Augen geschlossen.

Luna stürmte in die Küche. Sie war ohne Beute von ihrer Fuchsjagd zurückgekehrt und bellte und winselte abwechselnd, so als wollte sie sagen: Komm mal mit, ich muss dir was zeigen.

Sara beugte sich runter und kraulte ihr den Hals. „Hast du die Stelle gefunden, wo der Halunke über den Zaun ist? Braves Mädchen! Na komm, zeig sie mir!“

Der Zaun gehörte zu den wenigen Dingen, für die sie ihrem Vater bis heute dankbar war. Aber vielleicht hatte sie nicht nur den Zaun von ihm geerbt, sondern auch seinen Glauben an das Schlechte, der so einen Zaun überhaupt erst nötig machte. Es war ein Wildschutzzaun, zwei Meter zwanzig hoch und mit einem dichten Geflecht versehen, der obere Teil nach außen abgeknickt. In einer schnurgeraden Linie trennte dieser Zaun ihr halbrundes, in die Biegung des Flusses geschmiegte Stück Land vom Rest der Welt. Er begann an der Kaimauer beim Fähranleger, führte rauf bis zum Gemüsegarten und wurde von einem zweiflügeligen Tor unterbrochen. Von hier aus verlief er wieder abwärts, bis er schließlich nahe der Badestelle am Fluss endete, wo er einige Meter weit ins Wasser hineinragte. So hielt er auch bei Niedrigwasser die Hasen und Rehe von ihrem Garten fern, genauso wie unliebsame Besucher, Neugierige und alles andere Übel, das da draußen kreuchte und fleuchte. Außerdem machte dieser Zaun es möglich, dass sie die Hühner tagsüber frei laufen lassen konnte und sie nicht in einem eigenen Gehege einpferchen musste. Der Zaun schützte sie vor dem Fuchs. Eigentlich.

Luna führte sie hoch zum Gemüsegarten und zeigte ihr die Stelle, wo der Fuchs aufs Grundstück gekommen war. Er war nicht über den Zaun geklettert, er hatte sich darunter durchgegraben. Als Sara das Loch wieder aufgefüllt und die Erde mit einem großen Stein bedeckt hatte, lief ihr der Schweiß den Rücken herunter. Mittlerweile stand die Sonne schon über den Pappeln und zeigte ihre unerbittliche Kraft.

„Guck dir mal an, wie wir aussehen.“ Sara sah an ihrem blutbefleckten Pyjama runter und warf Luna einen kopfschüttelnden Blick zu. „Wie zwei Dreckspatzen.“ Sie klopfte sich den Staub von der Pyjamahose. „Na komm, für ein kurzes Bad reicht die Zeit noch.“

Wenig später trat Sara Harmsen in ihrem roten Badeanzug und mit einem Handtuch über der Schulter vor das Haus. „Auf geht’s!“, rief sie Luna zu. Die Schritte ihrer Holzschuhe raschelten im trockenen Gras, Grashüpfer sprangen auf, Luna lief hechelnd neben ihr her und wedelte vorfreudig mit dem Schwanz. Sara kam an dem verwitterten Schuppen vorbei, in dem sie ihren Traktor und alle möglichen Gerätschaften aufbewahrte. In diesem Schuppen hatte sie neulich mit Kalle Bödefeld gestanden, während er ihren Traktor repariert hatte. Kalle schraubte am Motorblock herum und schwafelte ohne Punkt und Komma. Im Gegenzug für seine Gefälligkeit wollte er ein bisschen mit ihr schwatzen. So machte man das eben. Aber das war nicht ihr Ding, diese Floskeln, das belanglose Geschwätz, all der Tratsch. Sie wusste gar nicht, wie das ging. War sie zu viel allein? Blödsinn! Sie war gern allein. Ihr reichten die zwei Sätze mit Abdul, dem Briefträger, und der kleine Schwatz mit den Passagieren auf der Fähre. Und außerdem hatte sie ja noch Luna und die Hühner. Die waren ihr viel lieber als die nervigen Fragen von Leuten wie Kalle:

„Was machen die Hühner? Legen sie ordentlich?“

Sie hatte ihre Hühner bei Kalle gekauft, er züchtete sie auf seinem Hof. Natürlich hätte sie jetzt irgendetwas von den Hühnern erzählen können, aber wozu? Sara stand mit verschränkten Armen da und antwortete auf Kalles Fragen kaum mehr als: Ja. Nein. Gut. Kann sein. Dabei wusste sie schon, was Kalle später im Dorf erzählen würde: Die Harmsen, die ist echt schräg drauf. Lebt da ganz allein mit ihren Viechern, macht ein Gesicht wie ein verrammeltes Scheunentor, und du kriegst kein Wort aus ihr raus.

Als Sara sich der Schafweide näherte, kamen die drei Schafe angelaufen, blökten und reckten ihre Hälse über den Weidezaun. Auch hier war das Gras trocken. Bald würde sie die Weide bewässern müssen, damit die Schafe noch genug zu fressen fanden.

„Na, ihr drei Grazien!“ Sara steckte ihre Nase in das dichte Fell und sog dabei den herben Geruch der Tiere ein. Es wurde Zeit, sie zu scheren. „Habt ihr was Schönes geträumt heute Nacht?“

Die Schafe antworteten mit einem dreistimmigen Blöken.

„Alles klar, verstehe.“ Sie nickte.

Luna bellte ungeduldig und rannte schon voraus. Kurz darauf erreichte auch Sara die Badebucht am äußersten Ende ihres Grundstücks. Hier hatte sich im Flussbett eine Ausbuchtung gebildet, ein natürliches Becken, das unter den überhängenden Ästen einer Trauerweide im Schatten lag. Es war die perfekte Badestelle.

3.

Das Wasser war weich. Wie ein Streicheln auf der nackten Haut, wie eine Umarmung des Flusses. Sara streckte sich auf dem Rücken aus und ließ sich tragen, dabei schaute sie nach oben in das grüne Gewölbe der Trauerweide.

Luna ruderte mit den Vorderläufen und versuchte, mit dem Maul einen der herabhängenden Weidenwedel zu erwischen. Jedes Mal, wenn sie daneben schnappte, bellte sie empört auf.

Um diese Zeit war es noch still am Fluss. Die Kanuten und Kajakpaddler schliefen noch, die kreischenden Kinder, die am Nachmittag am gegenüberliegenden Ufer baden würden, machten sich jetzt auf den Weg zur Schule. Sara mochte diese morgendliche Ruhe in ihrer Badebucht. Solange sie denken konnte, war der Fluss Teil ihres Lebens gewesen. Sie war mit seinen Geheimnissen aufgewachsen, mit der verwunschenen Welt unter der glitzernden Oberfläche, mit seinem Wispern, seinem Murmeln und Brüllen. Aber auch mit seinem Stöhnen und Ächzen wie unter einer viel zu schweren Last, wenn die flussaufwärts gelegenen Industrieanlagen ihm ihre Abwässer zumuteten. Schon als Kind war ihr der Fluss magisch vorgekommen, er war ein Rätsel für sie gewesen, ein Wunder, ein Zufluchtsort.

Bilder stiegen in ihr auf wie Luftblasen im Wasser. Da war dieser sonnige Samstag im Mai. War sie zwölf gewesen? Oder dreizehn? Sie wusste es nicht mehr. Ihr Vater hatte bemerkt, dass ein Stück von dem Kuchen fehlte, der eigentlich erst am nächsten Tag angeschnitten werden sollte. Sein Körper füllte die Tür zur Speisekammer vollständig aus. Sara blickte auf den massigen Rücken, der vor Empörung bebte, neben ihr stand Jan und zupfte am Saum seiner kurzen Hose. Der Vater drehte sich um, sein Gesicht war gerötet, seine Stimme klang hart.

„Wer war das?“ Ein Knistern lag in der Luft, ein Zittern wie vor einem Blitzschlag, dem ein verheerender Knall folgen würde, ein Donnergrollen, das alles und jeden hinwegfegen würde. Der Blick des Vaters traf erst Sara und blieb dann an Jan hängen.

„Hast du von dem Kuchen genommen, Jan?“

Es gab nicht oft Kuchen bei Familie Harmsen. Kargheit herrschte in dem abgelegenen Fährhaus, die Einnahmen der Fähre reichten gerade für das Nötigste. Kuchen war die Ausnahme, nicht die Regel.

Der Vater machte einen Schritt nach vorn und packte Jan am Ohr.

„Ich war das nicht“, jammerte Jan mit zitternder Stimme.

Der Vater durchschaute ihn sofort, sein linkes Auge zuckte.

„Du bist nicht nur ein Dieb, du bist obendrein auch noch ein Schwindler.“ Er zog stärker an Jans Ohr, Saras Bruder wimmerte. Er war damals fünf. Höchstens sechs.

„Na schön, dann werde ich dir jetzt mal beibringen, dass ein Mann für seine Fehler einzustehen hat.“

Ohne Jans Ohr loszulassen, griff er hinter sich und nahm den Teppichklopfer vom Haken. „Na los, ab in den Schuppen.“

Sara sah das schmerzverzerrte Gesicht ihres Bruders, sein hilfloses Zittern. Wie von selbst kamen die Worte aus ihrem Mund, bevor sie über die Folgen nachdenken konnte:

„Ich habe den Kuchen genommen.“

Die Augen des Vaters verengten sich, er beugte sich zu ihr vor.

„Fängst du jetzt auch noch das Lügen an?“ Betrübt schüttelte er den Kopf. „Also gut, wie du willst.“ Er ließ das Ohr ihres Bruders los, packte sie am Arm und zog sie mit sich.

Im Schuppen musste sie sich mit dem Oberkörper auf die Werkbank legen. Sie hörte, wie der Teppichklopfer durch die Luft sauste, sie spürte den beißenden Schmerz auf ihrem nackten Hintern, das ohnmächtige Wüten in ihrem Bauch. Das war schlimm genug. Aber noch schlimmer war das Gesicht ihres Bruders, den der Vater zwang, sich die Bestrafung anzusehen, das Grauen in seinen Augen, das Wimmern, das fassungslose Kopfschütteln. Das war zu viel für Sara. Zwischen zwei Schlägen floh sie von der Werkbank und stürzte aus dem Schuppen. Sie rannte am Hühnerstall vorbei, runter zum Fluss, mit dem Gefühl, durch zähen Honig zu laufen.

„Bleib stehen!“, hörte sie den Vater brüllen, während sich hinter ihr die schweren Schritte näherten. Wo sollte sie hin?

Ihr Vater konnte nicht schwimmen. Ein Fährmann, der nicht schwimmen konnte, das war im Grunde lächerlich. Niemals hätte er das zugegeben. Außerhalb der Familie wusste niemand davon, und ihr Vater hätte sich vergessen, wenn einer von ihnen über sein Geheimnis gesprochen hätte. An diese Schwäche ihres Vaters erinnerte sich Sara in ihrer Not. In Sekundenbruchteilen fasste sie einen Entschluss: Sie stürzte sich in den Fluss. Mit all ihren Kleidern lief sie ins Wasser, bis sie keinen Boden mehr spürte, tauchte unter, so tief wie sie konnte, hinein in die sanfte leise Welt des Wassers, bloß weg vom Vater, der fluchend am Ufer stand. Zum ersten Mal beschützte sie der Fluss. Und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein.

Luna paddelte heran und kläffte freudig, bestimmt war sie in einem früheren Leben mal ein Fisch gewesen. Das Einzige, was ihr Hund am Wasser nicht mochte, war Saras Vorliebe für das Untertauchen. Aber sollte sie deshalb darauf verzichten? Nein, ganz sicher nicht. Sara legte die Arme um die Knie, atmete tief ein und ließ sich zu Boden sinken. Über ihr glitzerte die Wasseroberfläche, Lunas strampelnde Beine wühlten das Wasser auf, Lichtbalken fielen schräg herein und strahlten einen Schwarm Rotfedern an, der über dem Flussgrund nach Futter suchte. Hier unten war es still, nur ein sanftes Rauschen und Strömen, der ganze Wahnsinn dieser Welt war weit weg. So war das schon immer gewesen. Die Rufe des Vaters waren nicht bis hierhin vorgedrungen, auch nicht die Schreie ihres Bruders, sein Wimmern unter den Schlägen des Teppichklopfers, sein Schmerz, seine Demütigung. Hier unten war sie unerreichbar gewesen, hier gab es nur die Musik des Wassers und den Wunsch, für immer hier zu bleiben. Niemand an ihrer Schule hatte so lange unter Wasser bleiben können wie Sara. Sie tauchte, bis ihre Lungen schmerzten und verzweifelt nach Luft verlangten, nur einen Moment noch, nur noch ein paar Sekunden in dieser friedlichen Welt verweilen.

Prustend durchbrach sie die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Luna gab ein erleichtertes Jaulen von sich.

„Ist ja gut, meine Süße, ich bin ja da!“ Sara kraulte ihr besänftigend den Rücken.

Das Wasser war zu warm. Und je wärmer es wurde, umso mehr Wasser verdunstete in der Sommerhitze. Mit der Folge, dass der armselige Rest noch höhere Temperaturen annahm und die flussaufwärts eingeleiteten Salze, Nitrate und Pestizide in immer höherer Konzentration auftraten. Das war nicht gut für die Fische, für das Leben im Fluss. Wenn das so weiterging, dann würde es zu einer Algenblüte kommen, Fische würden sterben. Und eines Tages würde sie vielleicht nicht einmal mehr in diesem Fluss baden können. Eine schlimme Vorstellung. In trockenen Sommern wie diesem kam ihr der Fluss wie ein kranker, alter Mann vor, den ein seltsames Fieber befallen hatte und der darüber kraftlos und klapperdürr geworden war.

„Was soll bloß aus dir werden“, murmelte sie, schöpfte mit den Händen etwas Wasser und ließ es zurück in den Fluss rinnen.

Mit ein paar Zügen schwamm Sara ans Ufer. Eine Weile stand sie am Rand der Badestelle, wo sie der Blättervorhang der Trauerweide vor neugierigen Blicken schützte. Sie genoss die Morgenluft auf ihrem Körper und sah Luna beim Baden zu, bis die Tropfen auf der nackten Haut sie frösteln ließen.

„Genug für heute. Raus aus dem Wasser, na los.“

Wenig später trat Sara mit dem Frühstückstablett in den Händen durch die Tür des Backsteinhauses nach draußen und freute sich auf Brot mit Rührei und auf grünen Tee. Vor dem Haus empfing sie das Gackern der Hühner, die scharrend über den Hof staksten, als hätten sie das morgendliche Drama mit dem Fuchs längst vergessen. Oder als würden sie gleichmütig hinnehmen, was nun mal nicht zu ändern war.

Sara stellte das Tablett im Schatten der großen Linde auf den Tisch und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Luna legte sich hechelnd neben ihr ins Gras.

Zeit für das Hühnerorakel. Sara schloss die Augen. Vor ihr lag der gepflasterte Weg, der von hier aus am Hühnerstall vorbei bis zum Fluss runter führte und das Gelände in zwei Bereiche teilte. Die entscheidende Frage war: Hielt sich die Mehrzahl der Hühner links vom Weg auf – was einen guten Tag ankündigte – oder hielt sie sich rechts davon auf und Sara musste mit dem Schlimmsten rechnen? Die Zuverlässigkeit dieser Vorhersage war erstaunlich. Fast immer passierten im Laufe des Tages Dinge, die Sara eindeutig dem Orakel zuordnen konnte. Kein Wunder – bei dem Orakel!, schoss es ihr dann durch den Kopf. Zwar konnte sie es weder beweisen noch erklären, aber von der prophetischen Gabe ihrer Hühner war sie felsenfest überzeugt. Deshalb hatte sie die Legehennen nach sieben griechischen Orakelstätten benannt: Ephyra, Olympia, Dodona, Delphi, Klaros, Didyma und Siwa.

Sara öffnete ihre Augen. Drei der Hühner pickten links des Wegs und die anderen drei rechts davon. Na toll. Ein Hühnerorakel mit sechs Hühnern, das konnte ja nicht funktionieren. Sie würde sich wieder ein siebtes Huhn anschaffen müssen. Und sie würde es Didyma Zwo nennen. Wenn der Geist von Didyma hier noch irgendwo herumstakste, dann suchte er ganz bestimmt rechts des Weges nach Futter. Der Tag, an dem sie ihr Lieblingshuhn hatte schlachten müssen, konnte kein guter Tag werden.

Sara beugte sich über ihren Teller, nahm das Brot mit Rührei in beide Hände und biss davon ab. Siwa kam über den Hof heranstolziert, sie strich ihr pickend um die Beine. Sara leckte sich die Finger ab und kraulte dem Huhn den Rücken, eine Geste, die Siwa mit inbrünstigem Gackern quittierte. Auch Olympia und Delphi näherten sich nun mit schlackernden Kehlkopflappen, um nachzusehen, was es hier gab. Kurz darauf scharrten und pickten alle sechs Hühner zu ihren Füßen.

„Danke für die Eier.“ Sara nickte ihren Legehennen zu. Siwa flatterte auf und landete gekonnt auf Saras Schoß. Imersten Moment zuckte Sara erschrocken zurück, aber dann legte sie ihre Arme um das leise gackernde Huhn und streichelte es. „Na, du Schmusebacke!“

Vom Haus war das Klingeln des Telefons zu hören. Wer rief sie an um diese Zeit? Wer rief sie überhaupt an? Bestimmt war es bloß wieder einer von diesen Werbeanrufen. Sara ging ins Haus, ohne sich sonderlich zu beeilen, und nahm den Hörer ab.

„Ja?“, knurrte sie.

„Ahlhausen hier.“ Die Stimme klang übertrieben freundlich. „Hallo Sara, einen wunderschönen guten Morgen.“

Alexander Ahlhausen, der Bürgermeister von Erlengrund. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.

„Sara, ich melde mich noch mal wegen des Grundstücks.“

„Ich verkaufe nicht“, schnarrte sie. Konnte er sie nicht endlich in Ruhe lassen?

„Sara, jetzt nimm doch Vernunft an.“ Alexander Ahlhausen atmete geräuschvoll aus. „Du hast schon das halbe Dorf gegen dich aufgebracht mit deiner Halsstarrigkeit. Es geht doch nur um das kleine Dreieck mit dem Anleger. Ganz ehrlich, so ein Angebot bekommst du nie wieder. Ich weiß doch, wie gut du das Geld gebrauchen kannst. Du wärst auf einen Schlag deine Schulden los.“

Sie kannte Ahlhausen seit der Grundschule. Schon damals war er gerissen und dreist gewesen. Und er war es bis heute geblieben. Einer, der es verstand, mit einer Mischung aus Schmeicheleien, Hartnäckigkeit und Drohungen das zu bekommen, was er haben wollte. Zum Beispiel Ariane Bruns, das schönste Mädchen der Schule. Oder das Betonwerk seiner Eltern, das er als Nachfolger mit harter Hand auf maximalen Profit getrimmt hatte. Die schicke Villa am Dorfrand von Erlengrund. Und das Amt des Bürgermeisters. Aber bei ihr war er damit auf dem Holzweg.

„Hör auf, Alex. Ich verkaufe nicht und damit basta.“

„Na schön, wie du willst.“ Nun schlug Alexander Ahlhausen einen kühleren Ton an. „Aber du machst einen großen Fehler, Sara, glaub mir. Du zwingst mich dazu, andere Maßnahmen …“

Sara knallte den Hörer mitten im Satz auf. Sie stand im Flur und stützte den Kopf gegen die Wand, ihr Puls ging schnell. Dankbar spürte sie, wie der Stein ihre Stirn kühlte. Hatte sie es nicht gesagt? Es würde kein guter Tag werden. So ein Idiot. Wollte sich mit dieser bescheuerten Brücke profilieren. Mit einer Brücke, die ihre Fähre überflüssig machen und eine Zufahrtsstraße entlang ihres Zauns nach sich ziehen würde. Und jede Menge Verkehr. Nur über ihre Leiche!

Aus einem entlegenen Winkel des Universums meldete sich Jans helle Kinderstimme und schreckte sie aus ihren Gedanken auf: Hey, Schwesterherz! Weißt du nicht, wie spät es ist?

Himmel, sie hatte die Zeit vergessen. Sie wischte sich über das Gesicht. Um sieben musste sie an der Fähre sein, jetzt aber los!

4.

Hastig stapfte Sara den Weg zum Steg runter und bog dann nach links auf den Trampelpfad ab, der unterhalb der Obstbaumwiese am Fluss entlang zum Anleger führte. Die Tasche mit dem Proviant und der Wasserflasche hatte sie geschultert. Schon von Weitem konnte sie sehen, dass die ersten Fahrgäste bereits am Anleger warteten. Auch Luna hatte verstanden, dass sie es eilig hatten, und rannte voraus bis zu der vergitterten Tür. Dort ließ sich die Hündin auf ihr Hinterteil fallen, und wartete mit heraushängender Zunge auf Sara.

Die Anlegestelle lag jenseits des Wildschutzzauns auf einem öffentlich zugänglichen Landstück, das ebenfalls Sara gehörte. Dies war das dreieckige Landstück, das Alexander Ahlhausen ihr unbedingt abkaufen wollte. Auch der Fernradweg führte über dieses Stück Land. Die Radtouristen und Ausflugsradler fuhren von Niederbreden flussaufwärts bis zu Saras Anlegestelle und wechselten hier mithilfe ihrer Fähre die Flussseite. Und wenn das Wetter gut war, dann bedeutete das Hochbetrieb.

Sara schloss auf, nun waren es nur noch wenige Schritte. Im Gehen wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, sie war zu spät. Keine fünfzehn Minuten, aber eben doch zu spät. So ein Mist. Das war vor allem für Emil und Pia ein Problem, die jeden Morgen die Fähre nutzten, um von Erlengrund zum Gymnasium in die Stadt zu kommen. Auch Felix Kowalsky und zwei, drei andere Leute aus Erlengrund, die auf der anderen Seite des Flusses einer Arbeit nachgingen, verließen sich darauf, dass die erste Fähre pünktlich um sieben Uhr ablegte. Und normalerweise konnten sie das auch.

Außer Emil und Pia hatten sich heute Morgen drei weitere Personen an dem Fahnenmast mit dem wappenförmigen Schild versammelt, auf das ihr Vater vor vielen Jahren die Worte Anlegestelle Grüner Mond gepinselt hatte. Da war ein junges Pärchen mit Packtaschen an den Fahrrädern, die Frau studierte gerade die Tafel mit den Fährzeiten und den Preisen für die Überfahrt. Und da war Mieke Petersen, Saras Grundschullehrerin aus Erlengrund, die an jedem Montag- und Donnerstagmorgen zum Hallenbad in der Stadt radelte, um dort ihre Wassergymnastik zu machen. Wie alt war Mieke jetzt? Sicher an die achtzig. Es war schon erstaunlich, dass sie solche Strecken immer noch mit dem Rad bewältigte. Aber vielleicht war sie auch nur deshalb so rüstig, weil sie sich überwiegend aus eigener Kraft fortbewegte.

„Tachchen Sara.“ Mieke nickte ihr freundlich zu und stützte sich mit beiden Armen auf den Lenker ihres schwarzen Fahrrads. „Dass du mal zu spät bist! Muss ich mir Sorgen machen? Kowalsky und die anderen sind schon wieder weg. Die sind mit ihren Rädern runter nach Niederbreden, zur Brücke. Stocksauer waren die. Kannste dir ja denken, kennst ja Kowalsky.“ Mieke sah sie kopfschüttelnd an. „Der alte Schaumschläger.“ Sie hielt sich den Mund zu, als wäre ihr etwas Ungehöriges rausgerutscht, kicherte dabei aber wie ein Schulmädchen.

Eilig schloss Sara das Gatter auf, mit dem der schwimmende Anleger gesichert war. Es schepperte, als sie den steilen Metallsteg zu ihrer blauweißen Fähre runterstapfte und die Kette öffnete, damit die Fahrgäste an Bord gehen konnten. Als die beiden Schulkinder sich mit ihren Tornistern an ihr vorbeidrückten, blieb Emil kurz stehen und blinzelte gegen die Sonne zu ihr hoch.

„Du bist zu spät“, sagte er ernst.

Ja, du meine Güte. Da war sie ein einziges Mal zu spät, und schon musste sie sich von einem elfjährigen Schlaumeier solche Sprüche anhören. „Mach du mal lieber voran, sonst wird es noch später“, fuhr sie Emil an.

Emil zuckelte weiter und die drei Erwachsenen schoben ihre Räder an Bord. Maximal zwölf Personen konnte sie transportieren, zusammen mit ihren Rädern. Aber es kam nicht oft vor, dass ihre Fähre voll besetzt war.

Als alle an Bord waren, legte Sara die Kette wieder vor, löste die Vertäuung und ging rüber zu ihrem hölzernen Führerhaus, wo Luna schon ihren angestammten Platz in ihrem Körbchen eingenommen hatte. Mit dem eisernen Steuerrad betätigte Sara die Winden für die Gierseile, sodass sich die Fähre schräg in die Strömung stellte und über den Fluss glitt.

Während der Überfahrt hielt sich Sara unter dem Sonnensegel vor ihrem Führerhäuschen auf. Das war das Beste an heißen Tagen wie diesem. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf die Reling und schaute über den Fluss. Drüben am Anleger auf der anderen Seite hielt gerade der Linienbus, der einmal in der Stunde von hier aus in die Stadt fuhr, und der normalerweise auch Emil und Pia zur Schule gebracht hätte. Heute würde er ohne sie abfahren. Und auch Felix Kowalsky, Lehrer am Heinrich-Böll-Gymnasium, würde heute zu spät zum Unterricht kommen. Nur den beiden jungen Leuten mit den Fahrrädern war das alles egal, sie saßen auf einer der Bänke und turtelten miteinander wie ein frisch verliebtes Paar.

Mieke Petersen kam zu ihr rüber und stützte sich neben ihr auf das Metallgeländer. Ihre dünnen grauen Haare wehten im Fahrtwind, die Hände hatte sie gefaltet. Eine Weile lehnten sie schweigend nebeneinander an der Reling. Sara genoss die Nähe zu dieser alten Frau. Es war eine Nähe, die einfach da war, und die nicht viele Worte brauchte. Sie mochte das, das gab es nicht so oft. Oder lag das an ihrer gemeinsamen Geschichte? Saras Leben wäre anders verlaufen, wenn Mieke Petersen nicht gewesen wäre. Die Grundschullehrerin hatte ihren Vater dazu gebracht, Sara aufs Gymnasium zu schicken. Und es war nicht leicht gewesen, den alten Paul Harmsen umzustimmen. Ein Mädchen? Wozu denn das? Begabung hin oder her. Es hatte all die Hartnäckigkeit gebraucht, die Sturheit, für die Mieke im Dorf berüchtigt war.

Schon damals hatte Sara Bücher über alles geliebt. Ihrem Vater war das ein Dorn im Auge gewesen. Es hatte ihn gekränkt, dass seine Tochter klüger war als er. Dass sie dauernd diese schlauen Wälzer aus der Stadtbibliothek anschleppte und darin las, wo sie ging und stand. Im Suff hatte er Saras Bücher sogar schon mal in den Fluss geworfen.

„Wir brauchen Regen.“ Mieke schaute flussabwärts über das Wasser, dorthin, wo bei dem niedrigen Wasserstand ein paar Steine aus dem Fluss ragten. „Sonst läufst du noch auf Grund mit deiner Fähre. Und das Korn vertrocknet uns auf den Feldern.“ Sie deutete mit dem Kopf zum Ufer rüber.

Sara nickte. Der Pegel war schon seit Tagen im kritischen Bereich. Jeden Morgen schaute sie als erstes auf die Markierung an der Kaimauer, und jeden Morgen war der Wasserspiegel ein Stück weiter gesunken. Der einzige Vorteil des niedrigen Pegels war, dass keine Motorboote mehr fuhren. Es war ruhiger geworden auf dem Fluss.

Mieke räusperte sich und warf ihr einen Seitenblick zu. „Es wird sich wie ein Lauffeuer in Erlengrund rumsprechen, dass die Fähre heute nicht rechtzeitig gefahren ist. Da kannst du Gift drauf nehmen.“

Sie hatte ja recht. Kowalsky würde es genüsslich rumerzählen und würde damit Öl ins Feuer der Brückenbefürworter gießen. Sara folgte Miekes Blick bis zu der Stelle, wo die gemächliche Strömung, durch die ihre Fähre glitt, in ein Rauschen und Gurgeln überging, weil sich hier das Flussbett verengte. Genau dort, an der schmalsten Stelle des Flusses, wollte Ahlhausen seine Brücke bauen. Durch die Wahl dieses Standortes würde er Millionen einsparen, denn an keiner anderen Stelle konnte die Brücke so kurz werden wie hier. Nadelöhr, so hatte ihr Vater diese Stelle immer genannt. Nur hier konnte er die Brücke realisieren, nur hier war sie erschwinglich für die Gemeinde. Deshalb brauchte er Saras Grundstück, das direkt an das Nadelöhr angrenzte.

Mieke räusperte sich. „Du weißt, dass ich auf deiner Seite stehe, Schätzchen.“ Sie tätschelte Saras Arm. „Die Fähre, das Haus, das Grundstück, das ist alles nicht mehr dasselbe, wenn hier eine Brücke hinkommt. Seit vier Generationen betreibt deine Familie die Fähre. Dass gibt man nicht so einfach auf. Auch wenn dein Vater ein Holzkopf war. Das ist dein Leben. Und es ist dein Broterwerb. Und außerdem wäre diese Brücke ein Fluch für unser Dorf und kein Segen, wie sie es uns einreden wollen. Tourismus soll sie bringen, dass ich nicht lache. Erlengrund braucht keinen Tourismus. Erlengrund braucht seine Ruhe. Das Ganze ist ein Millionengrab.“ Sie nickte bekräftigend.

Sara war froh, Mieke so reden zu hören. Viele sahen das anders, das Dorf war gespalten. Die eine Hälfte war dafür, die andere dagegen. Und mit Alexander Ahlhausen gehörte ein einflussreicher Mann zu derjenigen Hälfte, die die Brücke wollte.

„Du meine Güte, was war Kowalsky eben auf hundertachtzig“, fing Mieke wieder an und schüttelte den Kopf. „Weißt du, was er gesagt hat?“ Sie beugte sich ein Stück vor. „Das kann doch nicht sein, dass ein einzelner Sturkopf eine Brücke für ein ganzes Dorf verhindert. Wenn die Harmsen nicht bald zur Vernunft kommt, dann sollte man der mal einen Denkzettel verpassen. Das hat er gesagt.“

Sara schoss das Blut ins Gesicht. Was fiel diesem Idioten ein? Sie kochte innerlich, was dachte er sich dabei? Es war ihr Land, es war ihre Entscheidung. Und wenn die Leute keine Lust auf ihre Fähre hatten, dann mussten sie ja nicht damit fahren. Dann konnten sie die Brücke in Niederbreden nehmen, dreiundzwanzig Kilometer flussabwärts. Sollten sie ihre Brücke doch bauen, wo sie wollten, aber nicht hier.

„Nimm dich in Acht vor Kowalsky“, raunte Mieke ihr zu, als sie schon fast das andere Ufer erreicht hatten. Sara nickte, sie musste ins Führerhäuschen und das Anlegemanöver einleiten. Wenig später ging Mieke Petersen mit den anderen Fahrgästen von Bord.

5.

Es dauerte mehrere Überfahrten, bis Sara sich beruhigt hatte. Immerhin verlief der Rest des Tages wie ein ganz normaler Arbeitstag: Leute kamen, Leute gingen, Sara setzte ihr Sprich-mich-bloß-nicht-an-Gesicht auf und vertiefte sich in ihr Buch, so oft es ging. Die Überfahrt dauerte nur ein paar Minuten. Wenn sie An- und Ablegemanöver abzog, blieb ihr gerade mal die Zeit für ein bis zwei Seiten. Aber sie hatte sich an dieses Intervalllesen gewöhnt. Und außerdem fuhr sie ja nicht nach einem festen Fahrplan, sondern nach Bedarf. Das hieß: Wenn an keinem der beiden Ufer Passagiere warteten, dann hatte sie längere Pausen, in denen sie zwanzig oder dreißig Seiten am Stück lesen konnte. Das kam vor allem an regnerischen Tagen vor.

Gegen Mittag wurde es so heiß, dass sie während der Überfahrt konsequent im Schatten ihres Verdecks blieb. Sara trank viel und bewegte sich wie in Zeitlupe, Luna lag apathisch und mit heraushängender Zunge da und hechelte schnell. Es war eine lähmende Hitze, die sich auch auf die Zahl der Fahrgäste auswirkte. Immer weniger Leute erschienen am Anleger, schließlich kam niemand mehr, der Radweg lag da wie ausgestorben. Na schön, dann würde sie jetzt eben ihre Mittagspause machen. Sara ging von Bord, setzte sich im Schatten der Pappeln an die Uferböschung und hielt ihre Füße ins Wasser. Während Luna ein Bad im Fluss nahm, machte sie sich über die mitgebrachten Brote und die Möhren und Tomaten aus ihrem Garten her, danach döste sie ein bisschen im Schatten.

Als Sara den Fährbetrieb wieder aufnahm, hatte die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten, und mit der allmählichen Abkühlung belebte sich auch der Anleger wieder. Ein paar Radwanderer mit prallvollen Packtaschen an ihren E-Bikes wollte übergesetzt werden, wenig später erschien eine Gruppe papageienbunte Rennradfahrer am Anleger, dann tauchten zwei Familien auf, die ihren quengelnden Nachwuchs im Fahrradanhänger durch die Landschaft kutschierten und sich von der Überfahrt mit der Fähre eine kleine Abwechslung versprachen. Dazu kamen die Leute aus Erlengrund, die zum Amt, zum Supermarkt oder ins Spaßbad in die Stadt fuhren, die dort Schuhe kauften oder ihre Freunde und Verwandten auf der anderen Seite des Flusses besuchten. Ein ganz normaler Tag eben.

Als die Uhr im Führerhaus neunzehn Uhr dreißig zeigte, war es genug für heute. Sie würde noch die drei Biker auf der anderen Seite absetzen, dann würde sie zurück zu ihrer Anlegestelle fahren und würde die Fähre am Ufer festmachen. Heute Abend würde sie sich einen Salat mit Ei machen. Und sie würde das Huhn aus der Speisekammer holen, würde es rupfen und daraus nach allen Regeln der Kunst eine leckere Hühnersuppe zubereiten. So wie ihre Mutter es früher getan hatte. Diese Suppe würde sie zwar erst morgen essen können, aber so war das eben – eine gute Hühnersuppe musste viele Stunden vor sich hin köcheln.

Sara sah rüber zum anderen Ufer und genoss den Fahrtwind, der ihr kühl über das Gesicht strich. Da drüben wartete niemand mehr auf sie, wie es aussah, würde sie ihre letzte Fahrt leer machen.

Sara war schon mitten im Anlegemanöver, als sie den jungen Mann bemerkte, der den Weg zum Fähranleger herunterkam und dabei das eine Bein nachzog. Er war komplett schwarz gekleidet, eine knielange Hose mit aufgesetzten Taschen und ein Kapuzenshirt mit weißem Aufdruck, die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Obwohl er humpelte, wirkte er gehetzt und sah sich beim Gehen immer wieder um. Anscheinend würde sie die letzte Überfahrt dieses Tages doch nicht ohne Fahrgast machen müssen.

Als er näherkam, erkannte sie, wie zerschlissen seine Kleidung war. Da waren Löcher in seiner Hose, auf seinem Shirt waren Flecken. Vielleicht war es Quatsch, aber irgendwie war ihr der Kerl nicht geheuer.

Die drei Biker hatten die Fähre kaum verlassen, da stolperte die hochgewachsene Gestalt mit der Kapuze über dem Kopf auch schon über die Landungsbrücke an Bord. No Nation, No Border, No Law, No Order, stand auf seinem Shirt. Das Ding war viel zu warm für diesen Tag, bestimmt schwitzte er darunter. Auch Luna hatte den Mann nun bemerkt. Mit geducktem Kopf und leisem Knurren schlich sie um ihn herum und nahm Witterung auf. Plötzlich fing sie an zu bellen, tief und grollend. Das tat sie sonst nie. Was hatte sie denn?

Der Kapuzenmann blieb einen Moment lang vor dem bellenden Hund stehen, dann machte er einen Bogen um Luna, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand des Führerhauses und sackte zu Boden. Er war am Ende seiner Kräfte. Seine Waden waren zerkratzt, es sah aus, als wäre er mit seiner kurzen Hose durch Dornengestrüpp gelaufen. Er schaute zu Sara auf und sie sah, dass er eine Platzwunde an der linken Schläfe hatte. Unter der Kapuze lugte ein blutverkrusteter Spalt hervor, es sah schlimm aus. Der Rest seines Gesichts blieb im Schatten verborgen.

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ein Fahrgast mit einer Verletzung. Brauchte er Hilfe oder kam er allein klar? Und welche Unannehmlichkeiten würde sie sich einhandeln, wenn sie jetzt anfing, sich um diesen Typen zu kümmern? Wollte sie das, so kurz vor Feierabend? Nein, das wollte sie nicht. Sie wollte einfach nur nach Hause, sie wollte ihre Ruhe.

Der junge Mann räusperte sich. „Entschuldigen Sie bitte, würde es Ihnen etwas ausmachen … also, könnten Sie …“ Er sprach leise und mit einer hohen, beinahe kindlichen Stimme, weich und melodiös. „Könnten Sie vielleicht bald ablegen? Das wäre ziemlich cool.“

Hallo? Wollte dieser Typ jetzt auch noch bestimmen, wann sie losfuhr? Das ging entschieden zu weit, Verletzung hin oder her.

„Wir legen ab, wenn es so weit ist.“

Der Kerl hatte ja noch nicht mal bezahlt. Sie zog einen Fahrschein aus ihrer Bauchtasche und hielt ihm das Ticket hin.

„Hier, macht einen Euro.“

Ihr seltsamer Fahrgast verschränkte die Arme auf den angewinkelten Knien und legte seinen Kopf darauf ab. Unter seiner Kapuze schüttelte er schwerfällig den Kopf.

„Bitte, ich habe kein Geld“, murmelte er. „Könnten Sie mich vielleicht einfach so übersetzen?“

Vielleicht spürte Luna Saras Anspannung oder sie witterte irgendetwas an ihm, das sie alarmierte, jedenfalls fing sie an zu knurren.

Der Kapuzenmann hob den Kopf und sagte in Richtung des Hundes: „Bitte, können wir nicht endlich losfahren? Ich müsste wirklich dringend hier weg.“

Sara hatte ein mulmiges Gefühl, worauf lief das hier raus? Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Kerl, aber sie wurde nicht schlau aus ihm. Was sollte sie mit ihm machen? Sollte sie sagen: Ohne Geld keine Überfahrt und jetzt runter von meiner Fähre? Oder sollte sie ihn einfach übersetzen und hoffen, dass er auf der anderen Seite von Bord ging und auf Nimmerwiedersehen davonhumpelte? Vielleicht sollte sie einen Moment warten, ob noch jemand kam, dann war sie wenigstens nicht allein mit ihm auf der Fähre.

„Also schön.“ Sie nickte ihm zu. „Ausnahmsweise. In fünf Minuten legen wir ab.“

6.

Leon hätte den Scheißköter am liebsten über Bord geworfen. Die ganze Zeit schlich die braunschwarze Töle um ihn herum, beschnüffelte ihn misstrauisch und ließ ihn nicht aus den Augen. Konnte die Fährfrau nicht endlich starten, worauf wartete die denn noch? Er kauerte reglos auf den Schiffsplanken, um den Hund nicht zu reizen. Als er sich nur mal die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht ziehen wollte, fing das Mistvieh sofort wieder an zu knurren und zeigte seine Reißzähne.

„Luna, aus! Bei Fuß!“ Die Alte lehnte unter einer Art Verdeck an der Reling und zeigte gebieterisch neben sich auf den Boden. Sie trug ein Stirnband in Pastellfarben, ein kariertes Hemd, eine Latzhose, dazu schwarze Arbeitsschuhe. Sie war in etwa so alt wie seine Mutter, nur dass seine Mutter in Pumps und schicken Kostümen rumlief und niemals solche Klamotten angezogen hätte. Die Fährfrau war nicht besonders groß. Sie hatte einen gut gepolsterten Körper mit reichlich Rundungen, und auch ihr Gesicht war rund und wurde von rostbraunen Haaren eingerahmt. Eine Frau vom Land, die daran gewöhnt war, dass man tat, was sie sagte. Der Hund folgte ihr jedenfalls aufs Wort und ließ sich neben ihren derben Schuhen nieder.

Leon richtete sich auf. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Schädel und erinnerte ihn daran, was passiert war: Er war von der alten Buche gestürzt. Da war das Vorbeirauschen der Zweige und Blätter gewesen, der Aufprall auf dem Waldboden. Er hatte verdammt Schwein gehabt. Na schön, er hatte sich den Kopf an einer Wurzel angeschlagen. Und er hatte sich das Knie verdreht. Aber mehr war nicht passiert. Bei einem Sturz aus dieser Höhe hätte er tot sein können. Einen Moment lang hatte er dagelegen und ein Gefühl gehabt, als wäre die Zeit stehengeblieben. Als befände er sich im Auge eines Orkans. Um ihn herum war voll das Chaos gewesen, das Gebrüll und Gerenne der Cops mit ihren schwarzen Helmen und den Schilden, oben in den Bäumen die Schreie und Sprechchöre der anderen, die Räumfahrzeuge, das berstende Holz, das Flackern von bengalischem Feuer, der Qualm. Der Wald, in dem sie für viele Wochen so friedlich zusammengelebt hatten, hatte sich in wenigen Augenblicken in ein Kriegsgebiet verwandelt. Niemand hatte in dem ganzen Tumult auf ihn geachtet. Ein paar Atemzüge hatte er abgewartet, dann war er losgehumpelt mit seinem schmerzenden Bein, bloß weg, immer geradeaus.

„Was trinken?“ Die Fährfrau stand vor ihm und hielt ihm eine Wasserflasche hin. Ihre Hände sahen nach Arbeit aus, die Nägel hatten schwarze Ränder. Sie blickte zu ihm auf die Planken runter, als wäre er ein seltenes Tier, das ihr zugelaufen war, ein Tier, von dem sie nicht so genau wusste, ob es harmlos oder unberechenbar war. Oder war das der Blick, mit dem sie alles und jeden ansah?

Leon hatte einen Mörderdurst. Er war durch die Gluthitze gehumpelt und hatte sich stundenlang in einem Stall versteckt, bis das Tatütata endlich aufgehört hatte, das Hin und Her der Polizeiautos. Erst dann war er weitergelaufen, über Feldwege und Nebenstraßen, immer in der Angst, dass die Cops plötzlich aufkreuzen konnten. Seit heute Morgen hatte er keinen Tropfen getrunken. Gierig ließ er den Inhalt der Flasche in sich reinlaufen, als müsste er eine Wüste in seinem Inneren bewässern, ein Trockengebiet, das nun endlich wieder zum Leben erwachte.

„Danke.“ Er wischte sich über den Mund und gab ihr die Flasche zurück. Da war eine feine Narbe im Gesicht der Frau. Sie lief im Zickzack quer über ihre linke Gesichtshälfte, von der Augenbraue über die Wange. Was da wohl passiert war? Die Narbe gab ihr den Anschein einer Frau, die sich mit Schmerzen auskannte. Die sich durch schwere Zeiten gekämpft hatte und hart im Nehmen war.

„Das muss genäht werden.“ Sie deutete auf die Platzwunde an seiner Schläfe. „Du brauchst einen Arzt.“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein Weißkittel, der blöde Fragen stellte. Der vielleicht von der Sache im Wald gehört hatte und die Bullen anrief.

„Hören Sie, ich …“ Leon hatte Mühe, sich aufzurichten. Er kniete sich auf die Planken und zog sich mit beiden Händen an einer der Sitzbänke für die Passagiere hoch. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er auseinandergerissen, aber schließlich stand er schwankend vor ihr und sah direkt in ihre grünen Augen.

„Bitte, keinen Arzt.“ Einen Moment lang fragte er sich, ob er ihr einfach alles erzählen sollte. Von der Zeit im Wald und warum sie auf die Bäume geklettert waren. Davon, wie sie dort wochenlang zusammengelebt hatten, und wie heute früh im Morgengrauen die Bullen angerückt waren, und all das zerstört hatten. Aber diese Frau würde das nicht verstehen. Genauso wenig wie seine Eltern. Oder wie all die anderen Normalos, die in ihrem Leben festhingen, wie in einem Kreisverkehr ohne Ausfahrt, die ihre Jobs machten, sich um ihre Kinder kümmerten, die ihren Rasen mähten und in den Urlaub fuhren. Die auf ihren Smartphones Internetseiten aufriefen, die sie in dem bestätigten, was sie sowieso schon dachten.

Nein, er wollte keinen Arzt. Das Risiko war zu groß, dass er am Ende bei den Cops landete. Dass sie ihn doch noch einknasteten. Als er nach seinem Sturz durch Felder und Wiesen gehumpelt war, hatte er ein beschissenes Gefühl gehabt. Verloren war er sich vorgekommen, mutterseelenallein. Er vermisste die anderen. Was dachten sie jetzt von ihm? Er hatte sie im Stich gelassen, hatte sich feige davongemacht, gegen die Abmachung. Wie ging es ihnen, wo waren sie jetzt? Waren sie auf der Polizeiwache, hatte man sie erkennungsdienstlich behandelt? Hatte man sie nach ihm befragt, dem Komplizen, der vom Baum gestürzt war und der sich so plötzlich in Luft aufgelöst hatte? Wenn sie Pogo in die Mangel nahmen, dann war für nichts zu garantieren. Pogo war labil. Irgendwann kippte der um, irgendwann verplapperte der sich. Aber vielleicht waren die anderen auch längst wieder in Hamburg, wer konnte das wissen? Wie gern hätte er Isy angerufen. Oder Gorki. Aber er hatte kein Handy. Und Geld hatte er auch nicht. Er hatte null Plan, wie es jetzt weitergehen sollte. Wo sollte er heute Nacht bleiben? Verdammt nochmal, er war komplett im Arsch.

„Abfahrt“, rief die Frau und verschwand in ihrem Führerhaus.

Leon hörte sie hantieren, kurz darauf setzte sich die Fähre geräuschlos in Bewegung.

Die Wunde an seiner Schläfe hämmerte wie eine Herde Wildpferde. Vielleicht hatte die Alte doch recht, vielleicht musste das wirklich behandelt werden. Ihm wurde schwindelig und ein bisschen übel. Der Sturz, die Wunde, die Hitze, das war alles ein bisschen viel. Plötzlich schwankte das Deck der Fähre, es kam ihm entgegen, er suchte nach Halt.

Dann wurde es schwarz um ihn herum.

7.

Sara hatte gerade abgelegt, da fiel der Kerl einfach um. Zack, lag er da. Mit einem dumpfen Geräusch war der kraftlose Körper auf die Holzplanken gekippt. Himmel, jetzt war er auch noch ohnmächtig geworden.

Sie ging zu ihm rüber, kniete sich neben den Kapuzenmann und tätschelte ihm mit der flachen Hand die Wange. Als er sich daraufhin nicht rührte, tröpfelte sie ihm den Rest aus der Wasserflasche ins Gesicht, aber auch das half nicht. Verdammt nochmal, die Wunde an seiner Schläfe sah nicht gut aus. Erst jetzt erkannte sie, wie viel Blut auf das schwarze Shirt gelaufen und dort getrocknet war. Und auch einige Strähnen seiner schulterlangen blonden Haare waren blutverkrustet. Das Ganze roch gewaltig nach Ärger. Willst du dir diesen Ärger aufhalsen, Sara Harmsen? Nein, willst du nicht. Aber was sie auch nicht wollte, war eine schlaflose Nacht, in der sie sich vorwarf, dass sie diesem Verletzten nicht geholfen hatte.

Dr. Schramm fiel ihr ein, der alte Landarzt, der seine Praxis am Marktplatz von Erlengrund hatte. Ja klar, das war die Lösung: Sie würde Dr. Schramm anrufen und ihm erzählen, was passiert war. Das hier war ein Notfall. Sollte er doch einen Krankenwagen zum Anleger schicken und den Kapuzenmann in seine Praxis bringen lassen. Da konnte er ihn behandeln. Und sie war den Kerl los.

Sara beugte sich wieder über den ohnmächtigen Mann, er roch nach Schweiß und nach Angst. Als sie ihm die Kapuze vom Kopf zog und zum ersten Mal sein unverhülltes Gesicht sah, zuckte sie zurück. Ein Kribbeln zog ihren Nacken hoch, ihre Gedanken rasten hin und her und suchten nach einer Erklärung. Der Mann sah aus wie Jan. Die gleiche Unschuldsmiene, die weichen, mädchenhaften Züge. Natürlich konnte das nicht Jan sein, der Typ hier war viel zu jung dafür. Und doch sah er aus wie ihr kleiner Bruder. Ihr Herz stolperte, sie stand auf und musste sich an der Reling abstützen. Sara schaute auf den Mann runter, der dalag, als würde er schlafen. Die Ähnlichkeit war erstaunlich. Der gutmütige Ausdruck, das im Gesicht festgetackerte lausbübische Lächeln, die langen Wimpern.

Wie ein stotternder Motor sprang etwas in ihr an, ein Mechanismus, der mit der Zeit ein bisschen Rost angesetzt hatte, der aber immer noch genauso zuverlässig funktionierte wie damals. Es war der Beschützerinstinkt der großen Schwester. Ein schlummernder Reflex, den dieser Fremde durch seine Ähnlichkeit mit ihren Bruder aus dem Tiefschlaf erweckte. Sie wollte das nicht. Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.

Sara musste daran denken, wie Jan einmal mit der zerbrochenen Tabaksdose des Vaters vor ihr gestanden hatte, die Augen voller Angst und mit einem flehenden Blick, der sagte: Bitte rette mich! Und natürlich hatte sie ihren kleinen Bruder gerettet. Sie hatte die Dose geklebt und an ihren Platz zurückgestellt. So war das schon immer gewesen: Jan hatte in irgendwelchen Schwierigkeiten gesteckt, und sie hatte getan, was sie konnte, um ihn da rauszuhauen.

Auch dieser Fremde steckte in Schwierigkeiten. Bitte keinen Arzt, hatte er gesagt. Aber seine Verletzungen mussten behandelt werden, das war sonnenklar. Er hatte das Bewusstsein verloren. Aus eigener Kraft würde er seinen Weg nicht fortsetzen können. Und jetzt?

Komm schon, Schwesterherz, mischte sich Jans Stimme in ihre Gedanken ein, du hast Platz, du hast Verbandszeug, und eine Wunde wie diese wirst du ja wohl verarztet bekommen.

Sara seufzte. Es stimmte ja. Und dass es bei ihr nicht gerade aussah wie im Hilton, das war nun wirklich nicht ihr Problem. Wenn er sich erstmal ausgeschlafen hatte, dann würde er morgen schon irgendwie weiterkommen. Die Frage war, ob er es überhaupt bis rauf zum Haus schaffen würde. Jetzt musste sie jedenfalls erstmal zum Führerhäuschen und das letzte Anlegemanöver dieses Tages einleiten.

Sie drehte das Steuerrad, durch das kleine Fenster konnte sie sehen, dass Luna sich schon wieder dem Mann näherte, der immer noch ohnmächtig am Boden lag. Sara wollte sie schon zurückpfeifen, aber dann sah sie, dass sie weder bellte noch knurrte, ganz im Gegenteil.

Sie fing an, sein Gesicht abzuschlecken.

8.

Als Leon zu sich kam, hatte er keinen Schimmer, wo er war. Er spürte, dass er sanft dahinglitt, ein gleichmäßiges Rauschen und Plätschern war zu hören, über ihm erstrahlte ein geradezu überirdisches Himmelsblau. Wechselte er gerade rüber ins Jenseits? War er auf dem Weg ins Nirvana?

Als in dem Himmelsblau eine Hundeschnauze auftauchte und eine Zunge durch sein Gesicht sabberte, fiel ihm schlagartig wieder ein, wo er war. Von wegen Nirvana. Er war auf der Fähre dieser Alten mit ihrem bescheuerten Köter. Die Hundezunge fühlte sich rau an, der Speichel zog Fäden, Hals, Nase, Kinn, das alles war schon nass und klebrig. Aus dem Maul des Scheusals stank es nach Verwesung und nach Kläranlage. Leon verzog das Gesicht. Wo war die Alte, warum rief sie ihre Bestie nicht zurück? Leon versuchte, den Hund wegzuschieben, aber das Mistvieh fing sofort wieder an zu knurren und starrte ihn angriffslustig an.

„Luna, lass das!“ Der Kopf der Frau zeigte sich für einen Moment in der Tür des Führerhauses. Immerhin setzte sich der Hund nun auf sein Hinterteil, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Leon richtete sich vorsichtig auf und wischte sein Gesicht mit dem Ärmel ab. Er hörte, wie sie im Führerhaus hantierte, die Fähre drehte sich langsam und glitt sanft ans Ufer. Als sie das Boot am Anleger festgemacht hatte, kam sie zu ihm rüber und ging vor ihm in die Hocke.

„Siehst du das Haus drüben?“ Sie zeigte auf eine Linde, etwa fünfzig Meter vom Anleger entfernt. Ein Backsteinhaus duckte sich unter die ausladenden Zweige wie ein Küken unter das Federkleid einer Henne.

„Das ist mein Haus. Meinst du, du schaffst es bis dahin?“ Sie sah ihn ernst an. „Nur, damit du’s weißt – ich hab’s nicht so mit Menschen. Du lässt mich in Ruhe und ich lass dich in Ruhe. Und morgen früh bist du wieder weg. Ist das klar?“ Und dann sagte sie noch: „Ach so, und noch was: Ich hab nicht aufgeräumt.“

Sollte das heißen, er konnte bei ihr übernachten? Die Frau war echt schräg, ihr Hund ging gar nicht, und diese Nacht bei ihr zu verbringen, das war so ziemlich das Letzte, was er wollte. Aber so wie es aussah, hatte er keine Wahl. Im Gegenteil, er konnte froh über ihr Angebot sein.

„Danke“, murmelte er und nickte.

Wenig später saß er in der Küche des Backsteinhauses an einem Holztisch. Die Frau war im Haus unterwegs, um Verbandszeug zu holen, während der Hund in seinem Weidenkörbchen lag, ihn aus tiefschwarzen Augen anstarrte und leise knurrte. Leon saß ganz still da und betrachtete die Tischplatte. Sie war aus einem einzigen Stück Holz geschnitten, aus dem Stamm einer Eiche, vermutlich eine Stieleiche, lateinisch: Quercus robur, Tiefwurzler, bis zu vierzig Meter hoch. Das wusste er noch aus dem Studium, auch wenn er es abgebrochen hatte. Jeder der unzähligen Kratzer und Flecken auf der Tischplatte erzählte eine Geschichte. Wie viele Generationen von Menschen hatten hier im Fährhaus an diesem groben Tisch ihre Mahlzeiten eingenommen? Bestimmt waren sie alle Fährleute gewesen. Der altmodische Schriftzug auf dem Schild am Fähranleger kam ihm in den Sinn: Anlegestelle Grüner Mond.

Die Einrichtung der Küche wirkte düster und in die Jahre gekommen, so als wäre hier die Zeit stehengeblieben. Der Wasserhahn tropfte, ein Brummer flog unermüdlich gegen die Scheibe eines Sprossenfensters, die Kuckucksuhr zeigt zehn nach drei. Dabei war es jetzt kurz vor acht oder so. In der Spüle türmte sich ein Berg dreckiges Geschirr, in den Ecken hingen Spinnweben. Und was waren das für schwarze Flecken, mit denen die Wände übersät waren? Leon stand auf und ging näher ran. Es waren Insektenleichen. An den Wänden klebten die erschlagenen Mücken, Motten und Fliegen der letzten hundert Jahre. Und dann die vielen Bücher. Sie stapelten sich überall, auf den Fensterbänken, auf den Stühlen, auf dem Tisch, ja, sogar auf der Arbeitsplatte. Das Bild über dem Esstisch wirkte fremd an diesem Ort. Es sah aus wie selbstgemalt, grobe Pinselstriche auf Leinwand, eine exotische Insel. Palmen, Möwen, Strand. SANSIBAR stand in geschwungener Schrift im Türkisgrün des Wassers.

Die Frau kam mit einem roten Verbandskasten zurück, nahm verschiedene Tuben, Fläschchen, Pflaster und Mullbinden heraus und legte sie auf dem Tisch bereit. Ihre Bewegungen wirkten zielgerichtet und routiniert. Aus einem Regal griff sie sich eine bauchige Glasflasche, in der undefinierbares Zeug in einer trüben Flüssigkeit schwamm. Was war das, was hatte sie damit vor? Irgendwie war ihm nicht wohl dabei, von dieser Frau verarztet zu werden. Sie kam ihm nicht gerade besonders zartfühlend vor.

Leon räusperte sich.

„Hören Sie, ich will Ihnen keine Umstände machen.“

„Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen.“

Die Frau ließ Wasser in eine Schale und baute sich vor ihm auf.

„Kopf in den Nacken“, kommandierte sie.

„Bitte, seien Sie vorsichtig, ja?“

„Du wirst es überleben.“ Sie tupfte das getrocknete Blut von seiner Schläfe. Das Reiben und Wischen tat weh, aber immer, wenn er leise aufstöhnte, verzog sie nur den Mundwinkel und machte unbeirrt weiter. Leon spürte ihre Körperwärme, ihr Gesicht war jetzt direkt über seinem. Er sah ihre Narbe aus nächster Nähe, wie ein Blitz teilte sie ihre Wange. Es sah krass aus.

Die Frau wusch den Lappen aus, Leon deutete mit dem Kopf auf das Bild mit der Insel. „Malen Sie?“.

Sie schnaubte verächtlich. „Sehe ich so aus?“

Dann beugte sie sich wieder über ihn, ein feiner Geruch nach feuchter Erde umwehte sie. Und nach Maschinenöl.

„Ich desinfiziere jetzt die Wunde, könnte etwas brennen.“

Es brannte höllisch, verdammt nochmal, er gab einen unterdrückten Schmerzensschrei von sich und kniff die Augen zusammen.

„Halt still.“ Sie rückte sein Gesicht zurecht, ihre Hände waren rau wie grober Stoff. Dann träufelte sie etwas von der trüben Brühe aus der Glasflasche auf ein Tuch und betupfte seine Schläfe damit. Dieses Mal tat es kein bisschen weh, im Gegenteil, die Wunde beruhigte sich merklich.

„Was ist das?“ Leon zeigte auf die Glasflasche.

„Ein Kräutersud, Heilpflanzen aus meinem Garten. Das Zeug wirkt Wunder.“

Leon wurde nicht schlau aus dieser Frau. Wo er auch hinsah in dieser Küche, überall flackerten Fragen auf. Zum Beispiel dieses Bild. Was hatte es damit auf sich?

„Waren Sie mal da? Sansibar?“

Wortlos schüttelte sie den Kopf, mit einer Handbewegung gab sie ihm zu verstehen, dass er sich weiter zurücklehnen sollte.

Oder dass diese Frau hier allein in diesem abgelegenen Haus lebte. Das war doch merkwürdig. Jedenfalls gab es hier keinerlei Anzeichen für einen Mann oder für Kinder oder so.

„Leben Sie hier allein?“

„Du stellst zu viele Fragen.“ Ihr Ton hatte etwas drohendes. Wie eine Erinnerung an die Bedingung für ihre Gastfreundschaft: Du lässt mich in Ruhe und ich lasse dich in Ruhe.

Sie nahm eine Verpackung vom Tisch, riss sie auf und zog einen schmalen Klebestreifen von einer Trägerfolie. „So, ich klebe das jetzt. Nähen wäre besser, aber es wird auch so gehen. Achtung, ich muss die Wunde zusammendrücken.“

Wieder tat es tierisch weh, ein Schmerz, als hätte ihm jemand ein Messer in den Kopf gerammt.

„Jetzt das Knie.“

Sie stellte einen Stuhl vor ihn hin, mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf, das Bein darauf abzulegen. Die Frau drückte mit beiden Daumen an seinem bloßen Knie herum, er zuckte zusammen.

„Kleine Prellung, halb so wild.“

Sie nahm ein Stück Mull aus dem roten Kasten, tränkte auch das mit dem Wundermittel aus der Flasche und fixierte es mit einem Verband auf dem Knie.

„Fertig“ sagte sie schließlich und packte alles zurück in den Verbandsasten. „Da drüben ist ein Spiegel.“ Sie deutete zur Spüle.

Leon sah in den kleinen Spiegel. Sein eigenes Gesicht kam ihm fremd vor. Es war dreckverschmiert, einzelne Haarsträhnen waren blutverklebt, vier schmale Pflasterstreifen hielten die aufgeplatzte Schläfe zusammen. Verdammt nochmal, er sah echt krass aus.

Hinter sich hörte er ihre Stimme: „Wie heißt du eigentlich?“

„Leon“, sagte er und drehte sich zu ihr um.

„Okay, Leon.“ Sie nickte. „Ich bin Sara. Sara Harmsen.“

Leon hatte einen Mörderhunger, aber die Frau machte keine Anstalten, ihm etwas zu essen anzubieten. Konnte er sie danach fragen? Nein, das wäre ihm dann doch irgendwie unverschämt vorgekommen. Aber etwas zu trinken hatte sie ja wohl für ihn, oder?

„Entschuldigung, könnte ich vielleicht etwas Wasser bekommen?“

„Gläser stehen im Schrank.“ Sie deutete mit dem Kopf auf den alten Bauernschrank neben der Tür. „Das Wasser aus dem Hahn ist Brunnenwasser von allererster Qualität.“

Leon musste aufpassen, dass er mit seinem frisch verarzteten Kopf nicht gegen die niedrigen Deckenbalken stieß. Als er sich wieder an den Tisch setzte und gierig sein Glas leerte, kam der Hund angetrottet. Er stupste ihn fordernd mit der Schnauze an und sah erwartungsvoll zu ihm auf. Leon hob erschrocken die Arme in die Luft. Was sollte das, was wollte das Vieh denn nun schon wieder?

„Luna möchte ein bisschen gekrault werden.“ Sara Harmsen nickte ihm aufmunternd zu. „Am besten du streichelst ihr den Kopf, das mag sie. Aber wenn du nicht willst, ist das auch in Ordnung. Sie ist nicht nachtragend.“

Dieser Köter hatte ihn die ganze Zeit nur angeknurrt, und zum Dank sollte er ihn auch noch streicheln? Luna blickte mit bittenden braunen Augen zu ihm auf, es lag etwas Menschliches in ihrem Blick. Auf einmal wirkte sie überhaupt nicht mehr bedrohlich, sondern sanftmütig und zutraulich. Na schön, Leon streckte zögernd die Hand aus. Das Fell des Hundes fühlte sich rau an, beinahe drahtig. Luna ließ sich auf ihr Hinterteil fallen und legte ihre Schnauze auf seinem Bein ab, als wollte sie sagen: So ist es gut, mach genauso weiter.

Sara grinste. „Wenn wir Menschen in der Lage wären, unser Bedürfnis nach Streicheleinheiten so selbstverständlich zu zeigen und mit Zurückweisungen so entspannt umzugehen wie Luna, dann wäre manches einfacher auf dieser Welt.“

Jedes Mal, wenn Leon aufhörte, Luna zu streicheln, stieß sie mit der Schnauze gegen seinen Arm, und er machte weiter.

Sara erhob sich vom Tisch. „Komm, ich zeige dir, wo du schlafen kannst.“

Schlafen. Das hörte sich gut an. Er war ziemlich fertig, die Aussicht auf ein Bett war verlockend.

Sara führte ihn eine knarzende Holztreppe hinauf, deren Stufen Ablageplatz für Bücherstapel war, benutzte Tassen, Klamotten und anderen Krimskrams, sodass nur ein schmaler Durchgang freiblieb. Oben zeigte sie auf eine Tür rechts der Treppe.

„Mein Zimmer. Absolut tabu.“

Sie warf ihm einen strengen Blick zu.

„Und hier“, sie öffnete die gegenüberliegende Tür, an der drei bunte Holzbuchstaben den Name JAN bildeten, „hier kannst du heute Nacht schlafen.“

Das Zimmer wirkte aufgeräumt und sauber, ganz anders als der Rest des Hauses. Es gab es ein Jugendbett und einen Fesselballon als Lampe. Auf dem Nachttisch stand eine von diesen Lavalampen, die vor hundert Jahren mal total angesagt waren. An der Tür hing ein Michael-Jackson-Poster und an der gegenüberliegenden Wand ein Snoopy-Plakat. Neben einem Holzimitat-Schreibtisch lag ein knallroter Sitzsack auf dem Boden. Einen Computer gab es nicht. Das ganze Zimmer wirkte wie ein Museum, wie ein Jugendzimmer aus längst vergangenen Zeiten. Dieser Eindruck wurde von einer feinen Staubschicht verstärkt, die über allem lag.

Das Einzige, was nicht in dieses Zimmer passte, waren die Gemälde, mit denen die Wände vollgehängt waren. Einige der Bilder sahen ähnlich aus wie das Bild unten in der Küche, die gleiche paradiesische Insel mit dem Schriftzug Sansibar. Der Rest waren ländliche Motive, Hühner, ein Strauß Sonnenblumen, ein Steg am Fluss. In einer Ecke des Zimmers stand eine Staffelei, darauf ruhte eine Leinwand mit einem angefangenen Gemälde, ein Vogeljunges im Nest. Wer war dieser Jan, und wo steckte er jetzt? War er der Sohn von Sara Harmsen? War er vielleicht bei seinem Vater? Oder hatte er gerade Sommerferien und war in einem Jugendcamp oder sowas? Leon war zu müde, um die Fährfrau danach zu fragen. Morgen war auch noch ein Tag.

„Das Bad ist unten neben der Küche.“

Sara Harmsen nickte ihm zu. Dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort, ihre Schritte entfernten sich auf der Treppe.

Wie sollte er das mit dem Bad machen? Er hatte nichts dabei, keine Zahnbürste, kein Handtuch, keine Klamotten. Sollte er die Frau nach einem Handtuch fragen? Oh Mann, er war total am Ende. Es fiel ihm schwer, seine Augen offenzuhalten. Leon setzte sich auf die Bettkante, nur ein paar Minuten, dachte er, dann würde er nochmal runtergehen und würde sich waschen. Kurz darauf kippte er nach hinten aufs Bett wie ein ausgeknockter Boxer, Sekunden später war er eingeschlafen.

Die Leichtigkeit der

Wasserläufer

Die Leichtigkeit der Wasserläufer ist die Geschichte der Halbbrüder Mohamed und Lukas. Der eine ist ein begnadeter Schwimmer, der andere ist überzeugter Nichtschwimmer, die beiden finden sich unausstehlich. Als sie auf eine Spur ihrer verschollenen Mutter stoßen, begeben sie sich mit einem Nachkriegsmotorrad auf eine atemberaubende Suche, die sie vom Sauerland bis nach Norderney führt. Am Ende bringt Mohamed seinem Bruder in der Nordsee das Schwimmen bei.

Der Autor auf den Spuren von Mo und  Lukas – mit dem Roller von Schmallenberg nach Norderney

Der Inhalt von Die Leichtigkeit der Wasserläufer: Mo ist der Sohn eines somalischen Flüchtlings. Er macht eine Zimmermannslehre und lebt in Berlin. Lukas ist Computerfreak und lebt mit seinem Vater in einer verfallenen Villa im Sauerland. Mo und Lukas wissen nichts voneinander. Und doch sind sie untrennbar verbunden, denn sie haben dieselbe Mutter. Diese Mutter ist spurlos verschwunden.

Als Mo ein Brief seines Vaters in die Hände fällt, erfährt er von Lukas. Mit dem alten Motorrad seines Vaters fährt er von Berlin ins Sauerland, um Lukas zu suchen. Zwei Welten prallen aufeinander, es rumpelt ganz gewaltig zwischen den beiden, und es dauert eine Weile, bis sich Lukas und Mo zusammengerauft haben.

Doch dann spielt ihnen der Zufall eine Spur ihrer Mutter in die Hände und die ungleichen Brüder machen sich mit dem Motorrad auf die Suche. Auf ihrem turbulenten Roadtrip überfallen sie aus Versehen eine Bank (ohne dabei Geld zu erbeuten), sie schreiben Gedichte (ohne davon sentimental zu werden), sie übernachten auf einem Friedhof (ohne vor Angst zu sterben). Und immer wieder verpassen sie ganz knapp ihre Mutter.

Nach einem wahren Kaleidoskop skurriler, amüsanter und aufregender Erlebnisse, erreichen sie Norderney, die Insel, auf der ihre Mutter geboren wurde. Hier lüften sie endlich ihr schreckliches Gehemnis und verstehen, warum ihre Mutter vor ihnen davonläuft.

Die drei Hauptschauplätze des Buches: Berlin, Sauerland, Norderney:

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Wasserläufer

  1. Das rote Motorrad

Ich hatte sie nicht kommen sehen. Sie waren zu dritt und ragten vor mir auf wie eine Schlechtwetterfront. Ein eisiger Windstoß wehte mir ins Gesicht: „Sieh mal einer an, wen haben wir denn da?“

Schon wieder dieser Typ. Er erinnerte mich an eine weiße Ratte. Ich hasste seine bleiche Visage, ich hasste die wimpernlosen Augen, mit denen er mich von oben herab beäugte, ich hasste seine zur Seite gekämmten weißblonden Haare. Und ich hasste meine Angst. Seine Stimme war genauso tonlos wie vor ein paar Wochen, das Rauschen der U-Bahn verschluckte sie beinahe. Er beugte sich mir entgegen und stützte sich mit dem Ellbogen auf die Rückenlehne hinter mir. Sein Atem streifte mein Gesicht.

„Stehen, hatte ich gesagt.“ An seinem hellen Hals sah ich das Tattoo, das ich schon kannte, es war ein Reichsadler, ich hatte es gegoogelt. Die beiden Leibwächter, die er bei sich hatte, standen hinter ihm und grinsten blöde, ein schlecht gelaunter Braunbär und ein Hamstergesicht.

„Stehen ist okay, hatte ich gesagt. Wieso sitzt du schon wieder hier und nimmst anständigen Deutschen den Sitzplatz weg?“ Die weiße Ratte schnalzte mit der Zunge. „Und beim Friseur warst du auch nicht, dieses Drahtlockengestrüpp ist eine Zumutung.“

Die U-Bahn war gerade mal halbvoll, die Leute schauten betreten auf ihre Handys oder in die Schwärze des U-Bahn-Tunnels und taten so, als würden sie nichts mitbekommen.

Der Typ inspizierte meine Zimmermannskluft und wischte mir ein paar imaginäre Flusen von der Schulter. „Du kommst von der Arbeit, hm?“ Er nickte kumpelhaft. „Jetzt mal unter uns. Warum hat einer wie du einen Job und ich nicht, hm? Kannst du mir das mal erklären?“ Sein Gesicht kam noch näher. „Soll ich dir sagen, wie ich das finde? Ich finde es zum Kotzen.“

Die Ratte richtete sich auf, ich bekam einen Tritt gegen das Schienbein. „Steh auf.“ Es klang wie das Kratzen von Schlittschuhen auf Eis. Der Typ tastete mich mit den Augen ab, ich war ein hilfloses Opfer für ihn, eine Beute, die er gleich genüsslich erlegen würde. „Oder müssen wir nachhelfen?“

Ich hatte das Gefühl, durch die Polster meines Sitzes in Richtung Erdmittelpunkt zu sinken. Mein Magen krampfte sich zusammen, meine Hände umklammerten den Rucksack auf meinem Schoß.

Ich kam nicht von der Arbeit, ich kam vom Schwimmen. Nach Feierabend hatte ich spontan entschieden, ein paar Bahnen zu ziehen. Also war ich direkt von der Zimmerei zum Schwimmbad gefahren und fuhr jetzt von dort nach Hause. Genau wie vor drei Wochen. Damals hatte ich mir geschworen, dass ich mich beim nächsten Mal wehren würde. Dass ich nicht aufstehen würde. Und dass ich ab sofort jeden Tag Kraftübungen machen würde. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich durch mein hammerhartes Training Gewichtheberschultern und Oberarme wie ein Boxer bekommen würde, und dass die Typen aus der U-Bahn einen Bogen um mich machen würden, wenn sie meine Muskelpakete sahen. Als Erstes hatte ich mir Tipps von Holger aus dem zweiten Stock geholt. Vier Mal die Woche hundert Liegestütze, hatte er gemeint, Crunches, Planks, Dips, dazu drei Mal die Woche Lauftraining – das war der Plan gewesen. Das Blöde war nur, dass mir dauernd irgendwas dazwischenfunkte: Baba rief zum Essen, Erhan wollte mit mir im Park abhängen, im YAAM lief ein cooles Reggaekonzert. Wenn das so weiterging, dann würde mein Körper für alle Zeiten so bleiben, wie er schon immer gewesen war, lang und schmal, ideal, um wegzulaufen, aber nicht besonders ideal, wenn es darum ging, diese Idioten in der U-Bahn einzuschüchtern.

„Hörst du schlecht?“ Die Hamsterbacke hatte sich vorgebeugt. „Du sollst aufstehen.“ Er gab mir einen Stoß gegen die Schulter. „Hier ist kein Platz für Leute wie dich. Verpiss dich. Geh zurück in das afrikanische Drecksloch, aus dem du gekommen bist.“

Ich war noch nie in Afrika gewesen. Mein ganzes Leben hatte ich in Berlin verbracht, Berlin war eine coole Stadt. Der Ton war manchmal ein bisschen rau hier, aber eigentlich waren die Leute entspannt. Berlin war bunt. Ein blubbernder Suppentopf, in den irgendjemand von allem ein bisschen was reingerührt hatte. Wenn ich wollte, dann konnte ich mich an den Imbissbuden der Stadt an einem einzigen Tag rund um den Globus essen. Aber natürlich gab es in Berlin auch Omis, die ihre Handtasche fester hielten, wenn ich neben ihnen an der Ampel stand. Und es gab Idioten, die mich zurück nach Afrika schicken wollten. Das war die andere Seite der Medaille.

Der Braunbär ließ die Fingerknöchel seiner Faust knacken. „Wer nicht hören will …“, sagte er und zog den linken Mundwinkel zu einem Grinsen hoch.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Ich sah mich zum zweiten Mal im Stehen bis zum U-Bahnhof Gleisdreieck fahren, während diese drei Arschlöcher sich grinsend auf die Sitze fläzten und blöde Sprüche machten.

„Potsdamer Platz“, nörgelte die Computerstimme aus dem Lautsprecher. Die Bahn quietschte in den Schienen, verlangsamte die Fahrt und kam im Neonlicht der Haltestelle zum Stehen. Die Türen öffneten sich, ein kurzes Kommen und Gehen, ein Moment der Stille. Und dann, in der letzten Sekunde, bevor die Türen sich wieder schlossen, sprang ich vom Sitz hoch, rammte mich zwischen den drei Dumpfbacken durch und hechtete ins Freie.

Ich rannte wie ein Irrer. Meine Schritte hämmerten über den Bahnsteig, ich stieß Leute beiseite, sprintete die Rolltreppe rauf und raste in Richtung Stresemannstraße. Auf der ganzen Strecke vom Potsdamer Platz bis zu unserem Haus blieb ich kein einziges Mal stehen, und auch die fünf Treppen hetzte ich hoch, ohne anzuhalten. Mit zitternden Händen schloss ich auf, huschte hinein und warf mich von innen gegen die Tür. Es war still, nur mein Japsen war zu hören. Und das Stampfen meines Herzens.

Baba war noch nicht aus der Schule zurück.

Ich ging in mein Zimmer, pfefferte meinen Rucksack in die Ecke und zog die Arbeitsklamotten und das verschwitzte T-Shirt aus. Die Luft kam mir zäh und schwer vor, ich riss das Fenster auf und warf mich mit bloßem Oberkörper aufs Bett. Von draußen wehte das dumpfe Brummen des Verkehrs herein, verdammt noch mal, ich hätte diese Typen am liebsten gekillt.

Ein Schmetterling flatterte durch das offene Fenster, diese Sorte mit den Augen auf den Flügeln. Er schwirrte an der sonnenbeschienenen Wand entlang, ganz leicht und leise, so als wäre das Leben ein einziger schwereloser Tanz, als gäbe es auf dieser Welt keine tyrannischen Arschlöcher und auch sonst keine Probleme. Was für ein schöner Tag, schien er mit seinem bunten Flirren zu sagen, alles ist wunderbar, alles ist easy, jetzt nimm das Leben nicht so schwer. Das Leben war schwer. Und es war ungerecht. Der Scheißflattermann ging mir auf die Nerven. Als er sich auf meinem aufgestellten Knie niederließ und mit den Flügeln wippte wie eine Diva, reichte es mir. In Zeitlupe näherte ich mich mit den Händen, als ich ihn fast erreicht hatte, schloss ich ihn mit einer schnellen Bewegung zwischen meinen Handflächen ein. Ich spürte, wie er aufgeregt flatterte, wie sein Flattern schwächer wurde, je enger ich den Hohlraum machte, wie es zu einem Rascheln wurde, zu einem letzten Zucken, und dann, während ich die Hände fest aufeinanderdrückte, war da nur noch ein Knistern wie von Papier, ein Knacken und Knirschen. Am Ende blieb nichts weiter von ihm übrig als ein paar schwarzbunte Brösel.

Ich stand auf und warf sie aus dem Fenster.

Mit einem dumpfen Ziehen im Bauch machte ich mich an mein Krafttraining. Ab heute würde ich es knallhart durchziehen, jeden Tag, gnadenlos. Ich stellte Takana Zion in voller Lautstärke an, dann legte ich los. Als Erstes machte ich fünfzig Crunches, danach kamen die Dips, ich gab alles, ich keuchte und schwitzte. Als ich zweiundsiebzig Liegestütze hinter mir hatte und achtundzwanzig weitere vor mir, klingelte es an der Tür. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, die Arme gestreckt, ein Schweißtropfen fiel von meiner Nase und landete zwischen meinen Händen auf der Matte. Das war kein gewöhnliches Klingeln. Es war ein Mach-sofort-auf-sonst-gibt’s-Stress-Klingeln. Waren das die Vollidioten aus der U-Bahn, waren sie mir gefolgt?

Ich stellte die Musik aus. Es klingelte noch mal, dann wurde gegen die Tür gehämmert. Auf dem Weg durch den Flur wischte ich mir mit einem Handtuch den Schweiß von Stirn und Brust und hängte es mir über die nackten Schultern.

„Wer ist da?“, hörte ich meine eigene Stimme sagen.

„Warum machst du nicht auf?“, kam es von der anderen Seite zurück. Das war Baba. Erleichtert öffnete ich.

Vor der Tür drängten sich sieben oder acht Gestalten und umringten ein vorsintflutliches Motorrad. In der Mitte stand Baba, seine Hände ruhten auf dem Lenker. Er sah aus, als hätte er allen Ernstes vor, diesen Schrotthaufen in unsere Wohnung zu schieben. Babas Eskorte bestand aus den üblichen Verdächtigen, die bei schönem Wetter unten im Hof abhingen und sich wegen irgendwelchem Blödsinn in die Haare kriegten. So friedlich vereint wie jetzt sah man sie nur selten.

Ganz rechts ragten Holger und Tamara auf, die Inhaber von Tamaras Powerhouse, einer Fitnessbude irgendwo in Kreuzberg. Vor ihnen stand der winzige Sergio aus der Wohnung nebenan, genannt il nano. Er hatte die Augenbrauen bis zum Anschlag hochgezogen und sah mich an, als müsste ich beim Anblick dieser schrägen Versammlung augenblicklich in Ohnmacht fallen. Links vom Motorrad grinste mir mein Freund Erhan entgegen, der mit seinen Eltern und seiner wahnsinnig hübschen Schwester Hediye in der Wohnung unter uns wohnte. Dahinter funkelten mir aus einem dunklen kantigen Gesicht die Augen von Yola entgegen. Sie war Journalistin, fuhr eine Moto Guzzi und wohnte im dritten Stock rechts. Ganz links stand Saad, der Apotheker. Er hatte die größten Ohren des Universums. Sie ragten unterhalb der spiegelglatten Glatze rechts und links aus seinem Kopf raus wie Aufhänger für den gigantischen Rauschebart, der den Rest seines Gesichts bedeckte.

Diese Typen mussten Baba geholfen haben, das Monstrum in den fünften Stock zu schleppen. Allein hätte er das nie geschafft, die ganzen Treppen rauf. Dafür war dieser Blechhaufen viel zu schwer. Und Baba war zu klein und zu schmal. Er schnaufte ja schon wie ein asthmatisches Eichhörnchen, wenn er mit dem Einkauf vor unserer Tür ankam.

„Sie haben es mir geschenkt, Mohamed“, flüsterte Baba und sah mit weit aufgerissenen Augen zu mir auf.

Ich verzog das Gesicht. „Baba, bitte.“ Er wusste ganz genau wie ich es hasste, wenn er mich Mohamed nannte. Alle sagten Mo zu mir, auch mein Vater. Mohamed sagte er nur, wenn er mit mir schimpfte. Oder wenn er etwas sehr Wichtiges zu sagen hatte.

„Kannst du dir das vorstellen? Geschenkt. Einfach so. Wir wissen nicht, wem es gehört, haben sie gesagt. Nimm es mit, das alte Ding. Ich habe es den ganzen weiten Weg bis hierher geschoben.“ Auf seinem kahlen kastanienbraunen Schädel glitzerten Schweißperlen, unter den Achseln hatten sich auf seinem karierten Hemd dunkle Flecken gebildet.

Schon seit Wochen schwärmte mein Vater von dem roten Motorrad. Er hatte es im Keller der Schule entdeckt, im hintersten Winkel, und hatte sich auf der Stelle unsterblich in die alte Karre verliebt. In seinem Kopf hatte sich die Idee festgesetzt, eines Tages mit dieser Maschine zur Schule zu fahren. Baba hatte die Rektorin darauf angequatscht, sie wusste von nichts. Er hatte sämtliche Lehrer damit genervt, die Sekretärin, den Sozialarbeiter, sogar die Leute von der Putzkolonne. Niemand konnte ihm sagen, wo das verstaubte, von Spinnweben überzogene Ding herkam. Natürlich hatte er höflich und vorsichtig gefragt, denn er war ja nur der Hausmeister. Ein Hausmeister, der froh war, dass er diese Stelle überhaupt bekommen hatte. Dabei hätte er eigentlich viel lieber als Lehrer an dieser Schule gearbeitet, so wie damals in Somalia. Aber Baba hatte sich damit abgefunden. So wie er sich mit allem abfand. Er nahm Unrecht hin wie höhere Gewalt. Oder wie schlechtes Wetter. Ganz gleich, wie schlimm es auch war.

„Mach doch mal bitte den Küchentisch frei, Mo“, sagte Baba mit singender Stimme und schob das rote Ungetüm durch die Wohnungstür in unseren Flur. So gut gelaunt hatte ich ihn lange nicht mehr gesehen.

„Leg die alte Plastikdecke auf. Und zieh dir was an.“ Er bog mit der Maschine nach links in Richtung Küche ab, die anderen Hausbewohner folgten ihm in einer erwartungsfrohen Prozession.

  1. Küchengetümmel

Als der ganze verrückte Haufen in unserer winzigen Küche versammelt war und die Maschine bestaunte, die wir auf dem Küchentisch aufgebockt hatten, war es so voll, dass sich die Wände nach außen bogen.

„Schöne Maschine.“ Holger beugte sich über das Motorrad und strich mit seiner Bratpfannenpranke erstaunlich zärtlich über den roten Tank.

Neben ihm stand Tamara. Sie hatte die Arme unter ihrem Wahnsinnsbusen verschränkt und musterte das Motorrad skeptisch. „Guck dir mal den ganzen Staub und die Spinnweben an“, zischte sie verächtlich und schüttelte den Kopf. „So was gehört doch nicht auf den Küchentisch.“

Ich lehnte neben Erhan an der Fensterbank. Von der Seite raunte er mir zu: „Mann, ihr habt vielleicht ein Scheißglück. Ein Motorrad. Wieso schenkt mir keiner ein Motorrad? Es ist so ungerecht, Alter.“

„Wenn Baba die Kiste zum Laufen kriegt, dann nehme ich dich vielleicht mal hintendrauf mit“, raunte ich zurück und gab Erhan einen Stoß in die Seite.

Ein Motorrad, das war schon lange mein Traum. Ich hatte vor einem Jahr meinen Schein gemacht, direkt nach meinem Achtzehnten. Und einen Helm hatte ich auch schon. Er war mattschwarz und zwei Nummern zu groß, weil er sonst nicht über den Berg aus schwarzen Locken gepasst hätte, der in alle Richtungen von meinem Kopf abstand.

„Das wäre verdammt cool, Alter.“ Erhan stieß mich mit dem Ellbogen an. „Stell dir das mal vor, Mann: Wir kreuzen mit diesem Gerät vorm YAAM auf.“ Er hatte die linke Augenbraue hochgezogen.

„Ein Haufen Schrott ist das, mamma mia“, säuselte Sergio mit seiner hohen Stimme und schüttelte bekümmert den Kopf. „Kannst du gleich ins Museo bringen. Oder zum Schrottplatz.“

„Blödsinn“, widersprach Baba und tätschelte den vorderen der beiden Gummisättel als läge er auf dem Rücken eines edlen Rennpferdes. „Die Karre mach ich wieder flott, ihr werdet schon sehen. Ich habe da schon ein paar Ideen, warum dieses Prachtstück nicht anspringt. Als Erstes werde ich mir mal den Vergaser vornehmen.“

„Wie jetzt?“ Yola zog die Stirn kraus und sah zwischen Baba und mir hin und her. „Du willst die Maschine hier in der Küche reparieren? Was sagst du denn dazu, Mo?“

„Ist schon okay.“ Damit konnte ich leben. Hauptsache, ich durfte sie hinterher auch mal fahren.

Yola schnaubte und sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. Irgendwie war sie mir unheimlich. Vielleicht weil sie studiert hatte. Oder wegen ihrer Moto Guzzi. Oder wegen ihrer funkelnden Augen. Was weiß ich?

 „Guck mal.“ Yola strich sich ihre schwarzen Locken aus dem Gesicht, beugte sich vor und inspizierte das geprägte Messingschild am Tank. „Das ist eine Miele. Genau derselbe Schriftzug wie an meiner Waschmaschine. Aber ein Motorrad von Miele? Die Karre ist garantiert uralt.“

„Seht euch das hier mal an.“ Baba setzte seine Lesebrille auf, steckte seinen Kopf halb unter den Tank der Maschine und zeigte auf das Typenschild, das dort angebracht war. „Hersteller: Miele-Werke. Baujahr 1954. Mo, dein Großvater ist 1954 zur Welt gekommen. Mein Vater – Allah sei seiner Seele gnädig. 1954, das ist ein guter Jahrgang.“

Es klingelte an der Tür, das war Hassan, Erhans Vater. Er wollte seinen Sohn zum Essen holen. Aber als er die Maschine sah, hatte er schnell vergessen, weshalb er gekommen war. „Wie schnell fährt die denn?“, wollte er wissen, und alle versuchten, einen Blick auf den Tacho zu erhaschen, der in den rot lackierten Scheinwerfer eingelassen war. Sergio stellte sich auf die Zehenspitzen, während Holger sich herunterbeugen musste und dabei ein herablassendes Grunzen ausstieß: „Neunzig Sachen. Bisschen lahm, oder?“

Als sich kurz darauf auch noch Aylin, Erhans Mutter, und die schöne Hediye in unsere Küche gequetscht hatten, waren mehr Bewohner dieses Mietshauses in unserer Küche versammelt als je zuvor.

Saad zwirbelte seinen Rauschebart und setzte einen Kennerblick auf. „Du verplemperst deine Zeit.“ Er wies mit dem Kopf auf die Maschine. „Glaub mir, die Karre ist am Ende.“

Hassan schnaubte verächtlich. „Und das kannst ausgerechnet du beurteilen? Ein Apotheker aus Damaskus.“

„Jedenfalls besser als du.“ Saad funkelte Hassan böse an.

Hassan spuckte einen türkischen Fluch aus, daraufhin wäre ihm Saad beinahe an die Gurgel gegangen. Zum Glück ging Aylin dazwischen. „Hört auf damit“, fauchte sie. „Sofort!“ Sie warf Saad und Hassan strenge Blicke zu. Die beiden gifteten sich eigentlich permanent an, irgend so ein Ding zwischen Türken und Syrern.

Yola räusperte sich. „Ich glaube, du kriegst das hin.“ Sie klopfte Baba auf die Schulter. „Wer über das Wasser laufen kann, der kann auch solche Leichen zum Leben erwecken.“

„Jetzt fang nicht wieder mit dieser alten Sache an.“ Baba machte eine abwehrende Handbewegung. „Das ist doch alles Blödsinn, ich bin nicht übers Wasser gelaufen. Wenn hier jemand übers Wasser laufen kann, dann vielleicht Mo.“ Er warf mir einen Blick voller Vaterstolz zu. „Barrakuda nennen sie ihn im Schwimmverein. Bei den Meisterschaften schwimmt er allen anderen davon. Die Pokale und Medaillen passen kaum noch in sein Zimmer und wenn er …“

„Baba, das nervt“, unterbrach ich ihn. Erstens übertrieb er. Und zweitens hatte ich mit den Wettkämpfen aufgehört, als ich zwölf oder dreizehn gewesen war. Den wahren Grund dafür hatte ich Baba nicht erzählt. Ich ging immer noch gerne Schwimmen, Wasser war mein Element. Aber ich trainierte schon lange nicht mehr.

Für Baba war es ein Wahnsinnsding, dass ich so ein guter Schwimmer war. Das lag daran, dass er selbst nicht schwimmen konnte. In der Gegend, aus der er kam, war Wasser so kostbar und so selten, dass es weit und breit nicht genug davon gab, um darin schwimmen zu können. Er hat mir erzählt, dass er in Somalia die Wasserläufer beobachtet hat, wenn er mit seinen Kanistern an der Wasserstelle saß, und dass er sich vorgestellt hat, er wäre selber ein Wasserläufer und würde über das Meer nach Europa laufen. Dorthin, wo Frieden ist. Dorthin, wo sie an einen Gott glaubten, dessen Sohn über das Wasser laufen kann. Eines Tages ist Baba dann tatsächlich über das Mittelmeer geflüchtet, in einem Boot, das voll war mit Menschen, die nicht schwimmen konnten. Viel zu voll. Das Boot ist kurz vor der italienischen Küste gesunken und viele Menschen sind ertrunken. Baba hat das Unglück auf wundersame Weise überlebt, obwohl er nicht schwimmen konnte. Alle bei uns im Haus kannten diese Geschichte, sie hat ihm den Beinamen Wasserläufer eingetragen. Und einen Respekt, der ihn zu einer Art väterlichem Oberhaupt unseres Mietshauses gemacht hat. Zu jemandem, den man ansprechen konnte, wenn es Stress im Haus gab. Und Stress gab es reichlich, irgendwas war immer: Hassan grillte unten im Hof vor dem Schlafzimmerfenster von Saad, Holger trainierte so heftig mit den Hanteln, dass das ganze Haus wackelte, oder Sergio verdächtigte Yola, dass sie sich ungefragt Werkzeug aus seinem Keller geliehen hatte. Und dann wurde erst mal ausgiebig rumgebrüllt, geschimpft und Türen geknallt. Bis sie am Ende bei uns klingelten, damit Baba den Streit schlichtete.

Holgers tiefe Stimme dröhnte durch unsere Küche: „Du musst dir einen guten Helm besorgen, bevor du die Maschine fährst.“

„Einen Helm habe ich schon, wartet mal.“ Baba drängte sich zwischen den anderen durch und kam kurz darauf mit einem Armeehelm auf dem Kopf zurück. Er sah damit aus wie ein Maulwurf.

„Vom Flohmarkt“, sagte er, und alle brachen in schallendes Gelächter aus.

Mitten in dieses Gelächter hinein rief Aylin: „Ach, du meine Güte, das Essen.“ Sie zog Hediye hinter sich her und quetschte sich an Holger und Baba vorbei. Aus dem Flur rief sie: „Hassan, Erhan. Kommt runter, sofort.“

„Viel Glück mit der Maschine.“ Holger schlug Baba auf die Schulter. Dann nickte er Tamara zu und die beiden düsten ab.

Kurz darauf verzogen sich auch Yola, Saad und Sergio.

  1. Der Jahrestag

Als alle Hausbewohner abgezogen waren, verkrümelte ich mich in mein Zimmer und machte meine restlichen Liegestütze und die anderen Übungen, die zu meinem Trainingsprogramm gehörten. Die ganze Zeit rechnete ich damit, dass mir wieder irgendwas dazwischenkommen würde, aber es passierte nichts. Erst bei meinen Sit-ups hörte ich Babas Stimme im Flur: „Abendessen!“

Wenig später saßen Baba und ich am Küchentisch. Eigentlich hätte es mich stutzig machen müssen, dass er Maryan Mursal angestellt hatte. Ich hörte die eindringliche Stimme, den somalischen Gesang, von dem ich kein Wort verstand, aber ich dachte mir erst einmal nichts dabei. In der Luft hing eine Wolke aus Pfefferminztee, Reifengummi und Benzin, Baba hatte die Teller, das Fladenbrot, die Oliven und den Käse rings um das Motorrad verteilt. Ich saß am Kopfende und hatte den Vorderreifen vor der Nase. Mir fiel auf, dass Baba schweigsam war. Er aß ohne großen Appetit, zwischendurch seufzte er immer wieder. Wo war seine gute Laune von vorhin geblieben, als er das Motorrad so freudestrahlend in die Küche geschoben hatte?

Ich räusperte mich und als er daraufhin aufblickte, sagte ich: „Hey, alles in Ordnung mit dir?“

Anstelle einer Antwort holte er eine Flasche Schnaps und zwei Gläser aus dem Schrank. Er schenkte uns ein, nahm sein Glas mit einem weiteren Seufzer, drehte es zwischen den Fingern und schaute hinein. „Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?“ Er sah mich an. Die Sorgenfalten, die das Leben zwischen seinen Augenbrauen in sein Gesicht gegraben hatte, vertieften sich. Baba sah immer ein bisschen so aus, als ob ihn irgendwas bedrückte. Selbst wenn er gut drauf war. Aber jetzt, als er mit dem Glas in der Hand vor mir saß und mich anschaute, da kam er mir vor wie jemand, der unerträgliche Zahnschmerzen hatte.

Ich wusste nicht, was er meinte. Was für ein Tag sollte heute sein? Erst als sein Blick zu dem gerahmten Foto neben unserem Kühlschrank wanderte, dämmerte es mir: Heute war der Jahrestag von Julias Verschwinden. Schon wieder dieses Thema, hörte das denn nie auf? Achtzehn Jahre war sie jetzt weg, damals war ich nicht mal anderthalb gewesen. Ich konnte mich nicht an meine Mutter erinnern, und ehrlich gesagt konnte sie mir gestohlen bleiben.

„Auf Julia!“ Baba kippte den Schnaps runter.

Ich schob das Glas weg und steckte meine Hände unter die Oberschenkel. „Ich trinke nicht auf sie.“ Es ging mir auf den Geist, wie Baba sie anhimmelte. Er hatte mir erzählt, dass Julia damals ganz plötzlich abgehauen war, einfach so, nur mit einem Koffer voll Klamotten. Kein Abschied, keine Erklärung, kein einziges Wort. Baba war bis heute felsenfest davon überzeugt, dass sie eines Tages wieder auftauchen würde. An dieser Idee hielt er sich fest wie an einem Rettungsring.

„Komm schon, Mo.“ Babas linke Hand umfasste mein Handgelenk, mit der anderen griff er nach der geprägten Silbermünze, die an einem Lederband um seinen Hals hing. Er hatte sich diese Münze umgebunden, als er vor zwanzig Jahren in Somalia aufgebrochen war, um nach Europa zu fliehen. Und er hatte sie seitdem nicht wieder abgelegt. Immer wenn es irgendwie brenzlig wurde, beschwor er den Zauber dieser Münze herauf, indem er sie berührte.

„Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Wenn sie eines Tages zu uns zurückkommt, werden wir erfahren, was passiert ist. Und bis dahin bin ich dein Vater und du bist mein Sohn.“

„In meinem Pass steht aber nicht Mohamed Abdi Sharif. Da steht Mohamed Harms. Julia ist weg, und ihr Name klebt an mir wie ein falsches Etikett.“

„Das ist eine reine Formsache. Es hat mit den deutschen Gesetzen zu tun.“ Er beugte sich vor, sein Atem roch nach Alkohol. „Mo, du musst lernen zu verzeihen. Glaub mir, es ist besser so. Komm schon, stoß mit mir auf deine Mutter an.“ Er hielt mir das volle Glas hin.

Verzeihen? In meinen Schläfen fing es an zu pochen, eine Scheißwut kochte in mir hoch. „Das ist doch Bullshit!“ Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, irgendein Blechteil des Motorrads schepperte. „Julia hat sich einfach verpisst und du machst eine Heilige aus ihr!“ Meine Hand griff in einer blitzschnellen Bewegung nach dem Glas, das Baba mir hinhielt, sie holte aus und schleuderte das Glas auf Julias Bild, es zersplitterte unterhalb des Fotos an der Wand und der Schnaps lief an der Tapete runter.

„Mo!“, sagte Baba scharf. „Was soll das, was ist los mit dir?“

Ich umklammerte die Sitzfläche des Stuhls mit beiden Händen und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück.

„Sie waren wieder da“, murmelte ich, „in der U-Bahn.“

Babas linke Augenbraue wanderte zwei Zentimeter nach oben, die darüber liegende Partie seiner Stirn legte sich in Falten. Er seufzte tief und nickte. „Das tut mir leid.“ Baba presste die Lippen zusammen „Was sind das nur für Menschen?“ Er füllte sein Glas.

„Es sind Arschlöcher“, murmelte ich. „Sie meinten, ich soll verschwinden. Zurück nach Afrika.“ Ein Zittern lag in meiner Stimme, ich ließ den Kopf hängen. Manchmal wusste ich selbst nicht mehr, wo ich hingehörte. Ich war zur Hälfte Somalier, aber ich war noch nie dort gewesen. Und zur anderen Hälfte war ich Deutscher und wurde hier behandelt wie ein unrechtmäßiger Eindringling.

„Jetzt pass mal auf, Mohamed.“ Baba beugte sich vor und deutete mit dem vollen Glas auf mich. „Du bist ein toller Junge.“ Er kippte den Schnaps runter und grinste mich an, seine weißen Zähne strahlten, während er das Glas direkt wieder füllte. „Du rennst wie ein Windhund, du schwimmst wie ein Barrakuda und du bist eigensinnig wie ein Esel. Auf deinem Kopf wächst ein Nest aus schwarzen Kräusellocken, so groß, dass ein Storch darin nisten könnte. Du machst eine Lehre als Zimmermann, die Mädchen rennen dir hinterher und manchmal siehst du ein bisschen viele Gespenster. Und jetzt kommt das Beste: Dein Vater liebt dich über alles. Also, was willst du mehr? Auf dich!“

Baba trank sein Glas leer. Ich wusste ja, dass er es gut meinte. Er wollte mich aufmuntern. Aber in diesem Moment gab es nichts, das mich aufmuntern konnte.

Mittlerweile hatte sich ein glasiger Schleier über seine Augen gelegt. Baba war keine harten Sachen gewöhnt, es kam nicht oft vor, dass er sich einen Schnaps genehmigte. Als Muslim sollte er eigentlich überhaupt keinen Alkohol trinken, aber so genau nahm er es nicht mit Allah und den Glaubensregeln. In unserer Küche hing eine gerahmte Kalligrafie mit dem Wort Allah, an Babas Bett lag ein Koran, es gab kein Schweinefleisch. Und das war’s dann auch schon.

Als er sein siebtes oder achtes Glas getrunken hatte, goss er beim Nachschenken schon Einiges daneben, und dann dauerte es nicht mehr lange, bis er komplett hinüber war. In seinem Gesicht erschien wieder der tieftraurige Blick, mit dem unser Gespräch begonnen hatte. Er fing an zu lallen: „Mo, hömma, i muss di wassahn. Deine Mutta, weißu, …  die Briefe, essis schreckli.“ Baba legte die verschränkten Arme auf den Tisch und legte seinen kahlen Kopf darauf ab. „So schreckli“, nuschelte er noch einmal, dann schwieg er.

„Wovon redest du? Was ist schrecklich?“ Ich stieß an seine Schulter. „Was für Briefe?“ Verwirrt starrte ich den Streifen schwarzgrauer Stoppeln in Babas Nacken an.

 „Hättich sie bloß ni gelesen“, jammerte er.

„Wovon redest du? Na los, komm schon.“

Langsam dämmerte mir, warum Baba in den letzten Wochen so schlecht drauf gewesen war. Es hatte mit diesen Briefen zu tun. Irgendetwas musste er darin gelesen haben, etwas, das ihn komplett aus der Bahn geworfen hatte. Konnte es sein, dass Julia ihm geschrieben hatte, nachdem wir achtzehn Jahre nichts von ihr gehört hatten? Warum hatte er mir nichts davon erzählt?

„Was sind das für Briefe?“, drängte ich noch einmal, aber er schwieg. Plötzlich fing er an zu schluchzen. Sein Rücken bebte, sein vornübergebeugter Kopf wackelte hin und her, ein Klagelaut flatterte durch unsere Küche. Ich legte ihm eine Hand auf den Rücken, langsam beruhigte er sich. Nach einer Weile atmete er gleichmäßig und bewegte sich nicht mehr. Kurz darauf fing er an zu schnarchen.

Das war’s dann wohl, heute würde ich nichts mehr aus ihm rausbekommen. Ich legte ihm von hinten die Arme um den Brustkorb und richtete ihn auf. „Na komm, ich bring dich rüber.“ Als ich ihn in sein Zimmer verfrachtet hatte, legte ich ihn auf sein Bett. Einen Moment lang betrachtete ich den schnarchenden, schwarzen Mann auf dem weißen Laken. Dann fing ich an, nach den Briefen zu suchen.

Josh & Juli

Jakob Joshua Jablonsky hat das (schriftstellerische) Licht der Welt schon vor vielen Jahren erblickt, und zwar als Protagonist zahlreicher Kurzgeschichten in meinem Buch In Flagranti – Sprachspuren und Blickfänge, mit Gedichten, Kurzgeschichten und Fotografien. Nachdem Jablonsky für eine Weile untergetaucht war und schon als verschollen galt, stand der schräge Vogel eines Tages plötzlich wieder vor meiner Tür. Ich freute mich sehr, ihn wiederzusehen und so wurde er – zu meiner eigenen Überraschung – die Hauptfigur meines Romans Josh & Juli – 69 ½ himmelweite Tage.

Der Inhalt von Josh & Juli  Der Busfahrer Jakob Joshua Jablonsky sammelt Schirme. Er liebt Gedichte und Salzstangen. Und er liebt Eva. Als Eva ihn hinauswirft, fliegt ihm sein wohl geordnetes Leben um die Ohren und er weiß nicht, wo er hinsoll.

Doch da erreicht ihn ein Brief seines Großvaters: Hör zu, Du Pfeife! Du bist ziemlich am Arsch. Sie haben Dich gefeuert. Und Eva hat Dich vor die Tür gesetzt. Die Sache ist die: Der große Schiedsrichter wird mein Spiel bald abpfeifen und ich werde mir den Rasen von unten ansehen. Ich könnte Dir also meine Bude vermachen. Du kannst dort einziehen – unter einer Bedingung: Ich möchte, dass Du einmal am Tag etwas tust, das Du noch nie getan hast. Überleg es Dir!

Jablonsky hat keine Wahl, und so zieht er in das Sechs-Parteien-Haus ein. Anfangs tut er sich schwer, die Aufgabe des Großvaters zu erfüllen. Doch schon bald findet er Gefallen daran, jeden Tag etwas zum ersten Mal zu tun. Er spricht mit den Affen im Zoo. Er holt mit verbundenen Augen Brötchen. Er besingt die Gemälde einer Ausstellung.  Als er im Treppenhaus Juliana Blum begegnet, der Nachbarin mit dem Glockenlachen, läuft er zu Höchstform auf und umwirbt sie mit ungewöhnlichen Mitteln: Er versucht es mit einer Badewannenlesung. Mit einer Erdbeertörtchenschlacht. Mit einer roten Bügelsäge.

Kann er ihr Herz erobern? Immerhin sagt sie Josh zu ihm.

Das tut sonst niemand.

Die Geschichte einer unfreiwilligen Glückssuche wird in einem leisen, beinahe zärtlichen Tonfall erzählt. Verspielter Wortwitz und poetische Wärme färben den Text. Eine kleine Anleitung zum Ausbruch aus dem Alltag. Ein Lob der Fantasie.

Und vor allem: eine Liebesgeschichte. 

Obwohl der Roman bislang noch nicht veröffentlicht wurde, sind Auszüge daraus mit Literaturpreisen ausgezeichnet worden (Nordhessischer Literaturpreis, Mountain Stories Literaturpreis) und in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften erschienen. Die Lesungen aus Josh & Juli machen immer großen Spaß, weil ich dabei in aller Regel ein schmunzelndes, grinsendes, kicherndes Publikum vor mir sehe, in dessen Köpfen ganz offensichtlich die Frage kursiert, was man denn in seinem Leben mal tun könnte, das man noch nie getan hat. Und warum man nicht schon längst damit angefangen hat.

Reinlesen? HIer klicken und Leseprobe öffnen!

Josh & Juli

69 1/2 himmelweite Tage

  1. Tag – Die Linie

 Jakob Jablonsky stellt den schwarzen Rollkoffer auf dem Bürgersteig ab und blickt an der Fassade des Altbaus hinauf. Ein Schweißtropfen läuft ihm den Rücken herunter, es ist zu viel warm für die Anzugjacke und die graue Schirmmütze. Da oben rechts, das sind die Fenster seiner neuen Wohnung, zweiter Stock, Südseite, Blick über die große Kreuzung. Sein Schulweg führte hier entlang, Geschwister-Scholl-Gymnasium, mehr als zwanzig Jahre ist das her. Die Kebabbude an der Ecke ist neu, der Matratzenladen auch. Was seine Mutter wohl sagen wird, wenn sie erfährt, dass er wieder in der Stadt ist?

Das Haus kommt ihm feindselig vor, die Fenster sehen düster und abweisend aus. Aber das ist ja auch kein Wunder. Wenn man der unglücklichste Mensch des Universums ist, dann sieht eben alles düster und abweisend aus. Sogar dieses Haus, das ihn immer einladend und freundlich empfangen hat, wenn er seinen Großvater hier besuchte.

Jablonskys Unglück heißt Eva, ist eins dreiundsechzig groß, haferblond und Lehrerin an einer Grundschule. Sie hat gesagt, dass es ihr leidtut. Was ja wohl das Mindeste ist, schließlich ist sie schuld daran, dass ihm sein Leben um die Ohren geflogen ist. Es war ein gutes Leben. Ein Leben, in dem alles klar und geordnet verlief, in dem es zum Frühstück Toastbrot und Ostfriesentee gab, in dem er sich um sechs Uhr dreißig ins Cockpit seines Niederflurbusses gesetzt hat, um die Tour der Linie 23 abzufahren, in dem es das abendliche Zupfen und Hacken im Garten des kleinen Reihenhauses gab, den Sommerurlaub am Wörthersee und den Weihnachtsbaum mit den Glaskugeln. Natürlich könnte man sagen: Es war immer dasselbe. Eva hat ihm das manchmal vorgehalten. Bei ihrem letzten großen Streit brach unvermittelt ein Satz aus ihr heraus, den er nicht vergessen kann: Du bist so unscheinbar wie ein Schluck Wasser im Meer. Und dann sagte sie noch etwas: In einem Raum mit anderen Menschen, einem Aufzug, einem Wartezimmer, oder einem Zugabteil, bist du so gut wie unsichtbar und hinterher erinnert sich niemand an dich. Das hat wehgetan. Hat sie sich deshalb in einen anderen Mann verliebt, war ihr das Leben mit ihm zu gleichförmig? Er jedenfalls mochte das, die Verlässlichkeit, die Vorhersehbarkeit, die Klarheit. Er will sein altes Leben zurück, sein Leben mit Eva. Aber dieses Leben gibt es nicht mehr.

Jakob Jablonsky geht auf die Haustür zu, der Rollkoffer rumpelt hinter ihm über den Bürgersteig. Er zieht an dem goldenen Türknauf, den sein Großvater in all den Jahren sicher unzählige Male berührt hat und tritt durch die schwere Eingangstür. Vor ihm liegen die sieben oder acht Meter Flur, die er von nun an jeden Tag durchqueren wird. Einer der Briefkästen quillt über, auf der Klappe klebt der blauweiße Aufkleber des 1. FC Brambeck. Das ist der Briefkasten seines Großvaters. Gegenüber hängt eine Tafel, auf die jemand mit Kreide geschrieben hat: Sperrmüll am Mittwoch. Es riecht nach feuchten Wänden und nach fremden Menschen.

An dem Tag, als Eva mit ihm Schluss gemacht hat, lag sein Großvater schon im Krankenhaus. Jablonsky hat ihn besucht und ihm erzählt, was passiert ist. Er saß am Krankenbett und sagte Sätze wie: „Was habe ich bloß falsch gemacht? Wie konnte es nur so weit kommen?“

Sein Großvater lag tief in das weiße Kissen versunken und wirkte schmal und verloren. „Das sind die falschen Fragen, Jakob.“ Er schüttelte schwerfällig den Kopf. „Es geht nicht darum, was du falsch gemacht hast. Die einzig wichtige Frage ist, was du daraus machst.“ Seine Stimme klang dünn und brüchig. „Nimm mich, Jakob. Äußerlich bin ich ein alter Mann, faltig, klapprig, kahl. Aber in mir drin finden sich immer noch Reste von Neugier, Lebenslust und eine Spur von Verrücktheit. Bei Dir ist es genau umgekehrt: Du bist gerade mal vierzig Jahre jung, aber in deinem Inneren bist du ein alter Mann, ein bisschen steif, pedantisch und immer in Sorge, dass etwas schiefgehen könnte.“ Sein Großvater richtete sich mühsam aus dem Kissen auf. „Dabei gibt es eine ganz andere Seite in dir, Jakob. Als du ein Junge warst, da warst du verspielt, fantasievoll, träumerisch. Du hattest Sinn für Humor und Poesie. Der schreckliche Unfall hat das alles weggewischt. Du wurdest ernst und schweigsam, es war, als wärst du in wenigen Wochen um Jahre gealtert. Ich habe alles versucht, um dich zu trösten, dich aufzuheitern und dir zu zeigen, dass das Leben weitergeht, aber …“ Er seufzte resigniert. „Natürlich ist es schlimm, dass Eva dich vor die Tür gesetzt hat. Aber in gewisser Weise liegt auch eine Chance darin, Jakob. Alles auf null, du kannst einen ganz neuen Weg einschlagen. Und wer weiß, vielleicht begegnest du unterwegs dem Jungen, der du vor dem Unfall warst.“

Das war das letzte Mal, dass er mit seinem Großvater gesprochen hat, drei Tage später war er nicht mehr da.

Jablonsky steht im Flur und betrachtet gedankenverloren den überquellenden Briefkasten mit dem blauweißen Aufkleber. Er wird ihn leeren müssen, auch wenn es ihm seltsam vorkommt, die fremde Post aus dem Briefkasten zu nehmen. Als er seine Schirmmütze zurechtrückt, knistert in der Innentasche seiner Anzugjacke der Brief seines Großvaters. Er nimmt ihn heraus und schaut auf das beige Kuvert. Der Brief kam am Freitag, eine Woche nach der Beerdigung. Ein Brief von einem Toten. Wer ihn wohl für seinen Großvater eingesteckt hat? Vielleicht einer der sechs Fußballkumpel, die mit ihren blauweißen Schals um den Hals den Sarg getragen haben? Jablonsky öffnet den Umschlag und überfliegt noch einmal die Zeilen, die sein Großvater mit zittriger Hand hingekritzelt hat:

Jakob, mein Junge! Eben warst Du hier bei mir am Krankenbett und hast mir erzählt, was passiert ist. Wie es aussieht, brauchst du dringend eine Wohnung. Die Sache ist die: Der große Schiedsrichter ist gerade dabei, mein Spiel abzupfeifen, und wenn Du das hier liest, werde ich mir den Rasen wohl schon von unten ansehen. Ich könnte Dir also meine Bude vermachen, mit dem ganzen Krempel, der drinsteht. Allerdings knüpfe ich dieses Angebot an eine Bedingung. Ich möchte, dass Du einmal am Tag etwas tust, das Du noch nie getan hast. Ein Jahr lang, jeden Tag, dann gehört die Wohnung Dir. Was das ist, ist mir egal, Hauptsache, du tust es. Und schreib auf, was Du tust. Keine Romane, nur ein paar Stichworte. Solltest Du Deiner Aufgabe nicht nachkommen, wird die Wohnung über meinen Notar verkauft und der Erlös fällt dem 1. FC Brambeck zu. Also, Jakob, Du hast die Wahl. Lebe wohl – Dein Großvater

Mit einem Seufzer steckt er den Brief wieder ein. Etwas, das er noch nie getan hat, einmal am Tag, ein Jahr lang. Er schüttelt den Kopf, nein, das muss nun wirklich nicht sein. Schon gar nicht heute, an diesem schicksalsschweren Tag. Er wird morgen damit anfangen.

Nichts da, meldet sich die Stimme seines Großvaters in seinem Kopf. Auch heute. So schwer ist es doch gar nicht, Jakob. Siehst du das Stück Kreide unterhalb der Tafel? Damit lässt sich was machen. Lass dir was einfallen.

Jakob Jablonsky nimmt das Kreidestück von der Ablage unter der Tafel und dreht es zwischen den Fingern. In einem Leben, in dem sich das Allermeiste Tag für Tag wiederholt hat, musste er sich nicht allzu oft etwas einfallen lassen. Er ist es nicht gewohnt. Soll er ein Gedicht an die Tafel schreiben? Irgendetwas Kurzes von Jandl oder Ringelnatz? Soll er ein Strichmännchen hinkritzeln? Nein, das ist nun wirklich zu albern. Er legt die Kreide wieder weg.

Andererseits braucht er die Wohnung, so ist es nun mal.

Er horcht, es ist still im Haus. Niemand wird ihn sehen. Also schön, er nimmt die Kreide, bückt sich und beginnt, eine weiße Linie auf den gefliesten Boden zu zeichnen. Den Koffer hält er mit der linken Hand, mit der Rechten zieht er die Linie durch den Flur, vorbei an der langen Reihe der Briefkästen. Er hat ein mulmiges Gefühl. Vornübergebeugt schnauft er bei jedem Schritt, als er auf die Treppe stößt, sagt er zu sich selbst: Jablonsky, was machst du denn da? Beschmierst hier den Boden, das geht doch nicht!

Jetzt hab dich nicht so, brummt der Großvater. Es ist doch nur Kreide. Na los, nun mach schon!

Jablonsky seufzt, nach einem kurzen Zögern bückt er sich wieder und lässt das Kreidestück Stufe für Stufe in den ersten Stock hinaufkriechen. Den Rollkoffer trägt er am Griff. Ihm wird warm. Als er auf dem Treppenabsatz nach links abbiegen will, hört er ein Geräusch. Was war das? Ist da jemand im Treppenhaus? Auf keinen Fall möchte er dabei erwischt werden, wie er die Treppe bemalt. Schon gar nicht von Krause, dem schlechtgelaunten Hauswart aus dem Erdgeschoss, dem er manchmal begegnet ist, wenn er seinen Großvater besucht hat. Und auch den anderen Hausbewohnern möchte er lieber nicht über den Weg laufen.

Jablonsky lauscht. Nein, da ist nichts. Halb sitzend, halb kriechend führt er die Linie fort, die Treppe in den zweiten Stock hinauf, zieht den Koffer nach, erreicht den Treppenabsatz und stößt hier auf ein Paar grüne Wanderschuhe, die seiner Linie ein Ende setzen.

Es sind derbe Schuhe, die Waden, die darin stecken, sehen robust aus. Er hebt den Blick, über ihm ragt eine weibliche Person auf, die er noch nie gesehen hat, ein imposantes Gebirge aus üppigen Hügellandschaften, eingehüllt in einen grasgrünen Poncho, auf dem hunderte Gänseblümchen sprießen. Vom Gipfel dieses Massivs strahlt ihm ein rotwangiges Lächeln entgegen.

„Blum“, zwitschert es fröhlich auf ihn herab. „Juliana Blum. Sie sind bestimmt der Neue, nicht wahr?“

Sie streckt ihre kräftige Hand zu ihm herunter.

Er drückt ihre Hand, will sie wieder loslassen, doch Frau Blum hält ihn fest. Etwas Angenehmes strömt aus ihrer Hand in seine – nein, es strömt nicht, es wächst, wie eine Ranke, die seine Haut durchdringt, die sich entlang seiner Venen in seinem Körper ausbreitet, die sein Herz erreicht, es mit Blättern überzieht, mit weißen Blüten und mit einem Duft, der ihn schwindeln lässt.

Juliana Blum sieht ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, er begreift, dass sie seinen Namen wissen will.

„Jablonsky“, stellt er sich vor.

„Jablonsky?“, wiederholt Frau Blum und zieht die Stirn kraus. „Ist das alles? Einfach nur Jablonsky?“

Er nickt. Solange er denken kann, sagen alle Jablonsky zu ihm. Die Kollegen, die Nachbarn, schon in der Schule war das so: Jablonsky, gib ab, du Lusche! Selbst Eva hat ihn so genannt. Und wenn er mit sich selbst redet, dann sagt er: Mensch, Jablonsky, jetzt reiß dich mal zusammen! Nur seine Mutter sagt Jakob zu ihm. Und sein Großvater.

Endlich lässt Frau Blum ihn los. Ihre Augen folgen der weißen Linie. Bestimmt wird sie sich jetzt beschweren. Sie wird ihn fragen, was das soll, sie wird verlangen, dass er das Treppenhaus wischt. Aber Frau Blum sagt nichts. Im Gegenteil, sie nickt anerkennend, so als würde sie ein gelungenes Werk bewundern. Nun fängt sie sogar an zu lächeln. Ihr Lächeln wird immer breiter, und dann bricht ein glockenhelles Lachen aus ihr heraus. Es schallt durch das ganze Treppenhaus. Was hat sie, lacht sie ihn aus? Er will etwas sagen, etwas, das die Sache mit der Linie erklärt, er will aufstehen aus seiner lächerlichen Position auf den Treppenstufen, aber er kann nicht. Wie festgeklebt hockt er da, das Äußerste, wozu er imstande ist, ist ein Griff in seine Jackentasche. Er holt die angebrochene Tüte mit den Salzstangen heraus und hält sie Juliana Blum entgegen.

Sie beugt sich zu ihm herunter und zieht drei Salzstangen aus der Tüte. „Ich wohne über Ihnen.“ Frau Blum deutet mit den Salzstangen nach oben.

Jablonsky bringt ein schiefes Lächeln zustande, sein Kopf ist leer, sein Herz pocht. Vielleicht sollte er sich lieber wieder der Linie zuwenden. Er senkt den Bick, zieht mit dem Kreidestück einen Bogen um Juliana Blums Wanderschuhe und setzt die weiße Linie hinter ihr fort, bis sie die Wohnungstür auf der rechten Seite des zweiten Stocks erreicht.

Jablonsky schließt auf, gerade will er in der Wohnung verschwinden, da macht Frau Blum einen Schritt auf ihn zu: „Sagen Sie, das J“, sie streicht eine Strähne ihrer Goldhaare hinters Ohr und deutet mit ihrem Kopf auf das Namensschild, das sein Großvater für ihn neben der Tür angebracht haben muss, so als wäre ihm längst klar gewesen, dass sein Enkel das Angebot aus dem Brief annehmen würde, „Jakob J. Jablonsky, wofür steht das J?“

Jablonsky wirft einen Blick auf das Schild und schaut wieder zurück zu Frau Blum. „Joshua.“

„Joshua“, wiederholt Frau Blum bedächtig. Sie schmatzt leise, als würde sie seinen Namen abschmecken. Dann sagt sie: „Ich werde Sie Josh nennen.“ Sie nickt bekräftigend. „Also, Josh, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Ich drehe eine Runde durch den Wald. Von hier aus ist man in zehn Minuten im Grünen.“

Damit stapft sie entlang seiner Linie die Treppe hinunter.

Einen Moment lang steht Jablonsky reglos da, die Begegnung mit Frau Blum klingt in ihm nach wie die letzten Schläge von Sonntagsglocken. Dann schließt er auf und betritt die Wohnung seines Großvaters. Als Erstes macht er die Fenster weit auf.

  1. Tag – Im Wald

Seltsame Geräusche wecken Jakob Jablonsky, schlaftrunken öffnet er die Augen. Einen Moment lang weiß er nicht, wo er ist. Fetzen eines abstrusen Traums wehen durch seinen Kopf, Eva tauchte darin auf, sie war nackt. Er richtet sich im Bett auf, die Matratze knarzt, sein Kopf tut weh. Das Zimmer kommt ihm fremd vor. Das einzig Vertraute hier ist sein geöffneter Koffer auf dem abgewetzten Ohrensessel. Überall herrscht ein großes Durcheinander, alte Tageszeitungen und Kleidungsstücke liegen herum, Bücher und Zeitschriften stapeln sich. Dazu kommt noch der muffige Geruch, die Spinnweben in den Zimmerecken, die feine Staubschicht, die über allem liegt. Jablonsky sehnt sich nach der kühlen Ordnung seines Schlafzimmers, die ihn bis gestern jeden Morgen empfangen hat.

Über dem Bett hängt ein Druck von Picassos Guernica. Eine blauweiße Fahne des 1. FC Brambeck dient als provisorischer Vorhang. Unter der Zimmerdecke schwebt der Drachen, den sein Großvater mit ihm gebaut hat, als er noch in die Grundschule ging. Jablonsky erinnert sich an den stürmischen Herbsttag, sie hatten den Drachen auf einem Stoppelfeld ausprobiert, dann setzte ein Wolkenbruch dem Spaß ein Ende.

In einem Regal am Fußende des Betts stehen die abgegriffenen Lyrikbände. Jablonsky sieht seinen Großvater vor sich, wie er mit aufgerissenen Augen und mit viel Pathos Gedichte daraus rezitiert: Franz Hohler, Ernst Jandl, Karl Valentin. Wie gerne würde er ihn noch einmal so sehen. Wie gern würde er seine Stimme hören, die dröhnen, säuseln und schmeicheln konnte, wenn er sich mal wieder als großer Magier inszenierte und Zaubertricks für den kleinen Jakob vorführte. Der blaue Kaftan, den er dabei trug, hängt an einem Haken neben der Tür. Unglaublich, was sein Großvater hier alles angesammelt hat. Die Wohnung ist zu voll, Jablonsky würde gern einiges davon in den Keller bringen. Und dann würde er hier mal gründlich saubermachen.

Nun sind wieder die Geräusche zu hören, sie kommen von oben, aus der Wohnung von Frau Blum. Die Geräusche haben etwas Tröstliches. Frau Blum lässt das Wasser laufen, Frau Blum geht hin und her, sie benutzt ihren Staubsauger.

Jablonsky nimmt den Zettel vom Nachttisch und liest noch einmal die Nachricht seines Großvaters, die er gestern in der Küche gefunden hat. Vielleicht waren es die letzten Worte, die er geschrieben hat:

Lieber Jakob, herzlich Willkommen in Deinem neuen Reich. Füll bitte die Postkarte aus und schick sie ab. Viel Glück!

Wie ist diese Nachricht hierhergekommen? Sein Großvater lag ja bis zum Schluss im Krankenhaus. Wer hat sie hier auf den Tisch gelegt, zusammen mit der Postkarte? Die Postkarte sieht förmlich aus, sie ist adressiert an die Notare Ebeler und Söhne, der Text ist vorgedruckt:

Hiermit trete ich, Jakob Jablonsky, das Erbe an, und teile Ihnen mit, dass ich am – es folgt eine kleine Lücke – die Wohnung von Ferdinand Jablonsky bezogen habe. Ich willige in die Vereinbarung ein, mir ist bekannt, dass ich die Wohnung bei Verstoß gegen diese Vereinbarung unverzüglich räumen muss. Darunter eine Linie für die Unterschrift. Jablonsky sitzt im Bett und fächelt sich mit der Postkarte Luft zu. Er seufzt, was bleibt ihm schon übrig? Also trägt er das Datum von gestern ein, 26. Juli, und unterschreibt.

Ein Frühstück wäre jetzt schön, am liebsten mit Toastbrot, so wie immer. Jablonsky steht auf und geht los, um einzukaufen. An der nächsten Ecke ist ein Bäcker. Toastbrot gibt es hier leider nicht, aber Croissants, er kauft Butter und Marmelade dazu, auf dem Rückweg wirft er die Karte ein.

In den Vorräten seines Großvaters findet er schwarzen Tee. Als er kurz darauf beim Frühstück sitzt, fällt sein Blick auf die Fotos an der Wand gegenüber. Ein kleines Mosaik aus gerahmten Erinnerungen. In der Mitte hängt das Hochzeitsfoto seiner Großeltern. Rechts davon mehrere Bilder, die Jakob mit seinem Großvater zeigen, beim Angeln am See, mit einem Bumerang auf einer Wiese, er und sein Großvater mit einem dicken Gedichtband in dem roten Ohrensessel. Jablonsky ist fünf oder sechs auf diesen Bildern. Jedenfalls noch keine sieben. Sein Vater hat die Fotos gemacht, er muss also noch gelebt haben. Vermutlich sind sie kurz vor dem Unfall entstanden.

Er beißt von dem Croissant ab, streicht Butter und Marmelade auf die Stelle und beißt noch einmal ab. Es schmeckt gut. Vielleicht sogar besser als Toastbrot.

Ein weiteres Foto fällt ihm auf, Jakob mit seinen Eltern. Er sitzt auf den Schultern des Vaters, die beiden grinsen wie Verbündete. In den Augen seines Vaters liegt diese seltsame Mischung aus aufrichtiger Zuneigung und abgrundtiefer Melancholie. Seine Mutter schaut zu dem kleinen Jakob auf, in ihrem Blick liegt die Sorge, dass er herunterfallen könnte. Sie sieht aus, wie sie immer ausgesehen hat: streng und ernst.

Jablonskys Blick fällt auf den alten Küchenschrank, der neben der Spüle steht, solange er denken kann. Ein Zettel klebt an einer der kleinen Glasschubladen, in denen sein Großvater Mehl, Zucker und Salz aufbewahrt. In der unruhigen Schrift des alten Mannes steht darauf: STOPP! Auf keinen Fall Öffnen!!!

Hat er den Zettel für ihn dort hingeklebt? Aber warum, was befindet sich in der Schublade aus Glas? Er wird es wohl nie erfahren, denn natürlich wird er sich an die Anweisung halten.

Im offenen Fach des Küchenschranks steht ein Foto seines Großvaters. Er sitzt auf einer Bank und hat beide Hände auf seinen Stock gestützt, das Kinn ruht auf den Händen. Verschmitzt lächelt der alte Mann ihm von dem Foto entgegen. Und?, scheint er zu sagen, hast du dir schon überlegt, wie du heute deine Aufgabe erledigen willst?

Jablonsky nimmt einen Schluck Tee und tupft mit dem Zeigefinger Croissantkrümel vom Teller. Er könnte es sich leicht machen. Er könnte sagen: Ich bin zum ersten Mal im Bett meines Großvaters aufgewacht. Aufgabe erledigt.

So haben wir nicht gewettet, mein Junge, hört Jablonsky seinen Großvater brummen. Fast ist ihm, als würde der alte Mann auf dem Foto den Kopf schütteln. Also schön. Was könnte er stattdessen tun?

In der oberen Etage klappert eine Wohnungstür, die Tür von Frau Blum. Jetzt hallen ihre Schritte durch den Hausflur. Die Begegnung auf der Treppe fällt ihm ein, Frau Blums munteres Lächeln. Der Satz, den sie gesagt hat: Ich drehe eine Runde durch den Wald. Wie lange war er nicht mehr im Wald? Vielleicht fällt ihm dort etwas ein, das er zum ersten Mal tun könnte. Und außerdem wäre es ja möglich, dass ihm Frau Blum über den Weg läuft. Eine schöne Vorstellung. Beschwingt von dieser Idee zieht er die Schuhe an, nimmt die Anzugjacke und die Schirmmütze vom Haken und macht sich auf den Weg.

Frau Blum hatte Recht. Es ist nur ein kurzer Marsch durch ein paar Straßenschluchten, dann liegt der Lärm der Stadt hinter ihm. Er erreicht einen ansteigenden Weg, der sich durch einen lichten Wald aus Buchen windet. Bald verlässt er den Weg, geht zwischen Bäumen hindurch über federnden Waldboden. Als er weit genug von allen Wegen entfernt ist, bleibt er stehen und lauscht. Er ist allein. Und nun? Was könnte er tun?

Ich könnte mich für einen Moment ins Laub legen, denkt er.

Das ist nicht gerade eine große Sache, hört er die Stimme des Großvaters, aber meinetwegen, für den Anfang soll es reichen.

Und wenn es hier Zecken gibt?, fällt ihm ein. Wenn es feucht ist von unten?

Mensch, Jakob, knurrt sein Großvater, stell dich nicht so an.

Jablonsky zögert, mit einigem Unbehagen legt er sich schließlich ins Laub, in die vertrockneten Blätter, die bestimmt voller Staub und Sporen sind, er hält den Atem an. Es raschelt, es ist weich, er schließt die Augen und fragt sich, was er hier eigentlich tut. Es riecht nach Moos und nach Pilzen, nach Vergänglichkeit und nach Wachstum.

Die Jacke wird schmutzig, schießt es ihm durch den Kopf.

Ein Insekt landet auf seiner Wange, vielleicht eine Fliege. Die Fliege macht ein paar Schritte in Richtung Kinn, winzige Fliegenbeine tapsen über seine Haut, es kitzelt. Er bleibt regungslos liegen. Durch das Blattwerk fällt ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht, orangenes Licht dringt durch seine geschlossenen Lider, es wird hell und warm. Über ihm wispern tausend Blätter, als wollten sie ihm ein Geheimnis anvertrauen.

Plötzlich muss er an Eva denken. Wenn sie ihn so sehen könnte. Du hast sie ja nicht alle, würde sie mit ihrer belegten Stimme sagen. Warum ist es schief gegangen mit Eva? Waren sie sich zu nah? Oder waren sie sich nicht nah genug? Die Kunst des richtigen Abstands, darin sind die Bäume große Meister. Er schaut hinauf in die Buchen, die um ihn herumstehen, nah genug, um einander Halt zu geben, und weit genug, um einander Platz zu lassen. Was wir von den Bäumen lernen können, denkt er.

Er steht auf und klopft sich die Kleider ab. Einen Moment lang steht er andächtig zwischen all den Buchen, in seinem Kopf flackert eine Leuchtschrift auf:

BAUMSCHULE

  1. Tag – Der Kaugummi

Jablonsky geht in den nahegelegenen Supermarkt. Er schiebt den Wagen durch die Gänge und legt Salzstangen hinein, Butter, Salami, Eier, Brot. Am Vormittag hat er die Vorratskammer seines Großvaters aufgeräumt. Alle angebrochenen Packungen hat er weggeworfen, all die Lebensmittel mit abgelaufenem Verfallsdatum. Nun will er im Supermarkt eine neue Grundausstattung kaufen, Reis, Mehl, Nudeln und so weiter. Auf dem Weg zur Kasse sieht er zwei Schüler, die an einem Regal mit Süßwaren stehen. Sie nehmen dieses und jenes in die Hand, kichern, legen es wieder weg. Mit einer blitzschnellen Bewegung steckt einer der beiden eine Packung Kaugummi in seine Hosentasche. Der Bengel klaut! Und jetzt? Soll er die beiden ansprechen? Er geht auf sie zu, aber als er das Süßwarenregal erreicht, sind die Jungs längst zwischen den Regalen untergetaucht.

Hast du das gesehen?, raunt ihm sein Großvater zu. Sag mal, Hast du eigentlich schon mal irgendwo was mitgehen lassen?

Das ist verboten, hält er dagegen, dafür kann man einen Riesenärger bekommen.

Ja und?, hört er den Großvater brummen. Sie werden dich schon nicht gleich einbuchten. Nun komm schon!

Er schaut sich um, es ist niemand zu sehen. Vor ihm steht das Regal mit den bunten Süßwaren. Seine rechte Hand löst sich vom Griff des Wagens, nimmt eine Packung Kaugummi. Eingehend betrachtet Jablonsky den farbenfrohen Aufdruck, und dann, ohne dass sein Kopf den entsprechenden Befehl erteilt hätte, tut seine Hand so, als würde sie das Päckchen in den Wagen legen, verbirgt es stattdessen zwischen gestreckten Fingern, fährt in die Jackentasche und lässt die Kaugummis hineinfallen.

Er fängt an zu schwitzen. Schäm dich, Jablonsky! Du hast etwas eingesteckt, das dir nicht gehört. Das Blut schießt ihm in den Kopf, ein Leuchtturm ist nichts dagegen, bestimmt sieht man ihm das schlechte Gewissen auf zehn Meter gegen den Wind an.

Jablonsky geht auf komplizierten Umwegen zur Kasse, aber es scheint ihm niemand zu folgen. Als er die Waren auf das Band legt, pocht ihm sein Puls in den Schläfen.

Hinter ihm schnarrt eine Frauenstimme: „Hey, Sie da!“

Er erstarrt in seiner Bewegung. Langsam dreht er sich um, in den Händen eine Tüte mit Salzstangen und eine Salami.

Juliana Blum aus dem dritten Stock steht hinter ihm in der Schlange. Sie grinst schelmisch, so als hätte sie sich gerade einen kleinen Scherz erlaubt. Hat sie ihn etwa beim Klauen beobachtet? Hat sie ihn gerade mit voller Absicht erschreckt? So eine Frechheit! Mit ihrem roten Hütchen und dem orangegelben Kleid voller tellergroßen Mohnblüten steht sie da, einen halben Kopf größer als er, sie hält einen Einkaufswagen fest und grinst.

Frau Blum beugt sich vor und raunt ihm zu: „Sie sind Anfänger, stimmt’s?“ Ihr Duft umweht ihn. Apfel mit einer Spur von Zimt. „Wenn sie sich weiter so dilettantisch anstellen, dann geht das beim nächsten Mal schief. Der Ladendetektiv hier kann ziemlich unangenehm werden.“

Jablonsky bezahlt, er wartet auf Frau Blum, dann gehen sie zusammen nach Hause. Er mag ihre energischen Schritte auf dem Pflaster, sie wogt neben ihm dahin wie ein farbenfroher Ozeandampfer. Dabei flattert ihr das Mohnblumenkleid um die Beine, das sieht toll aus. Aber dass sie ihm vorhin diesen Streich gespielt hat, das ist wirklich ein starkes Stück.

„Sie können mich doch nicht so erschrecken“, beschwert er sich, als sie an einer roten Ampel warten müssen. „Mir wäre fast das Herz stehen geblieben.“

„Jetzt seien Sie nicht gleich beleidigt, Josh.“ Juliana Blum stupst ihn mit dem Ellbogen an. „Sie müssen entspannt bleiben beim Klauen. Die Schuldgefühle ablegen. Und wenn Sie schon klauen, dann richtig. Eine gute Flasche Wein. Ein Päckchen Kaffee. Aber doch keinen Kaugummi.“

Na toll, die Frau hat vielleicht Nerven. „Hören Sie, ich habe noch nie was geklaut.“

„Wirklich?“ Frau Blum zieht die Stirn kraus. „Na, dann wurde es aber Zeit.“

„Das klingt ja so, als würden Sie dauernd was mitgehen lassen.“ Ist sie etwa eine notorische Ladendiebin?

„Na ja, was heißt schon dauernd?“ Die Ampel springt auf Grün. Frau Blum setzt sich in Bewegung, Jablonsky folgt ihr. „Andere klauen auch. Lohmann zum Beispiel, der ist Profi. Was der aus dem Laden rausschleppt, das ist phänomenal.“

„Lohmann?“ Er nimmt den schweren Leinenbeutel von einer Hand in die andere und sieht Frau Blum von der Seite an. „Wer ist Lohmann?“

Frau Blum bleibt neben einer Litfaßsäule stehen. „Sie wissen nicht, wer Lohmann ist?“ Ein bisschen ungläubig schaut sie ihn an und blinzelt dabei gegen die Sonne. Das steht ihr gut. „Lohmann lebt in der Wohnung neben Ihnen. Er ist freier Journalist, verheiratet, zwei Söhne. Und immer knapp bei Kasse. Ich mag ihn nicht. Lohmann schnüffelt überall rum. Er hat viel mit Ihrem Großvater zusammengesessen.“

Frau Blum wendet sich ab und geht weiter.

Jablonsky muss sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten.

Vor der Haustür bleibt sie wieder stehen. „Also schön, Josh, ich denke, ich sollte es Ihnen erzählen.“ Sie presst die Lippen zusammen und sieht ihn an.

„Was sollten Sie mir erzählen?“

Gerade als Frau Blum loslegen will, kommt ein junger Mann auf sie zu, in der einen Hand eine Sporttasche, in der anderen ein paar Taucherflossen.

„Buon giorno, Frau Nachbarin“, flötet er gut gelaunt und nickt Juliana Blum zu. „Scusi, darf ich mal bitte?“ Er drängt sich zwischen den beiden durch und verschwindet im Haus.

Frau Blum sieht ihm nach. „Das war Francesco aus der Studenten-WG im ersten Stock. Ein sehr netter Mensch. Und verdammt gut in Form, haben Sie das bemerkt? Francesco finanziert sein Studium durch Tauchkurse. Er hat schon ein paar Mal versucht, mich für den Grundkurs zu gewinnen, montags im Hallenbad. Lust hätte ich schon. Tauchen, das ist ein ganz alter Traum von mir.“ Ihr Blick bekommt etwas Schwärmerisches. „Ich finde das eine faszinierende Vorstellung, so viele Meter unter dem Meeresspiegel, mit den Geheimnissen der Ozeane auf du und du.“ Sie seufzt.

Jablonsky gefällt das nicht, dieser Seufzer, dieser Blick, den sie Francesco nachwirft. Er räuspert sich. „Was wollten Sie mir eben erzählen?“

„Ach ja“, sie nickt. „Es geht um ein Gespräch, das ich mitgehört habe. Ich saß im Hof im Schatten der Birke, da hörte ich Lohmann und Ihren Großvater hinten bei dem Papiercontainer reden. Es fiel mehrmals Ihr Name, Jakob, das weiß ich noch genau. Ansonsten habe ich nicht viel verstanden, sie waren zu weit weg. Es klang, als ob Ihr Großvater Lohmann um etwas bitten wollte. Und Lohmann eierte rum, so nach dem Motto: Also, ich weiß nicht, lassen Sie mich drüber nachdenken. So was in der Art. Irgendwas haben die da ausgeheckt. Aber fragen Sie mich nicht, was es war.“

Frau Blum zuckt mit den Schultern. Dann wendet sie sich zur Haustür um und geht hinein.

Jablonsky folgt ihr, der Brief, denkt er, während sie die Treppe hinaufsteigen. Vielleicht hat Lohmann den Brief seines Großvaters eingeworfen, nach seinem Tod.

Vor Jablonskys Wohnungstür bleibt Frau Blum kurz stehen. „Schönen Tag noch, Josh.“ Sie nickt ihm zu, dann steigt sie die Treppe zum dritten Stock hinauf.

Jablonsky steckt den Schlüssel ins Schloss, ein Gedanke flattert durch seinen Kopf, eine verrückte Idee. Nach einem kurzen Zögern stellt er den Einkauf vor der Tür ab, stapft die Treppe runter und klingelt bei der Studenten-WG.

Francesco öffnet ihm mit einem Handtuch um die Hüften, er ist wirklich gut in Form. „Ja, bitte?“

„Der Grundkurs am Montag.“ Jablonsky kratzt sich am Hals. „Wäre da noch ein Platz frei?“

Francesco tritt einen Schritt vor. „Aber sicher.“ Er lächelt erfreut. „Sind Sie schon mal getaucht?“

Jablonsky schüttelt den Kopf.

„Das macht nichts. Kommen Sie um acht Uhr ins Eichendorff-Bad. Badehose, Handtuch, Schwimmbrille. Alles Weitere vor Ort.“ Francesco streckt ihm die Hand hin.

Jablonsky ergreift sie, sie schütteln sich die Hände.

„Va bene.“ Francesco nickt ihm zu. „Dann bis Montag.“

Jablonsky geht rauf und packt seine Tasche aus.

Die Kaugummis wirft er weg. Er mag keine Kaugummis.